Die Fotografien von Christine Erhard zeigen Architekturansichten oder Raumfragmente, die sich teils noch in zueinander versetzten Schichten überlagern. Sie fokussieren einzelne Gebäudeelemente und führen in mitunter verwinkelte, tiefe Innenräume. Mit Farbbändern und farbigen Flächen konterkarieren sie zugleich die Verstehbarkeit von Fläche und Raum und treten noch als Anamorphosen auf – umso deutlicher wird, wie präzise und punktgenau die Perspektiven dieser Aufnahmen gewählt sind. Christine Erhard gibt den Standort vor, an dem der Betrachter sozusagen steht, und mit ihm, was er von diesem aus sieht.
Dabei, genau genommen sind die Gebäude auf den Fotografien gar nicht real. Es handelt sich um maßstabsgetreue Modelle, die wie Kulissen lediglich aus der Schauseite bestehen und ihrerseits auf Fotografien wiederum von Christine Erhard oder aus Büchern beruhen. In der abschließenden fotografischen Aufnahme der Modelle im Atelier aber arbeitet Christine Erhard die Raumfluchten, Verkürzungen, stürzenden Tiefen und wechselnden Ebenen, Monumentalität und Enge ebenso heraus wie die Geometrie der Konstruktionen und das serielle Nacheinander kragender Elemente. Zum Naturalismus, aber auch dessen subtiler Irritation trägt bei, dass sie einzelne Flächen der Modelle mit Farbe anmalt oder diese projiziert und mittels der Ausleuchtung gleißendes Licht und weiche Schatten erzeugt. Scharfe Schnitte werden zur Orientierung des Sehens, andererseits entsteht etwas Haltloses, dabei entstehen labyrinthische Situationen. Es dauert einige Zeit, die so exakt konstruierten Aufnahmen von Christine Erhard zu erfassen. Plötzlich werden einzelne Farbflächen als bröselige Texturen an der Bildoberfläche wahrgenommen und unterlaufen die flächige Tiefe, die die Fotografie erwarten lässt. Auf den Moment der Verunsicherung aber folgt die zunehmende Orientierung und die Erkenntnis, selbst Teil des Bildes zu sein. Natürlich implizieren diese Fotografien Erinnerungen an Architektur und deren Moden und die Vergegenwärtigung ihrer Dominanz und das Aufregende konzentrierter Blicke auf die Gebäude.
Dazu wendet sich Christine Erhard bevorzugt der Architektur des sog. Brutalismus zu, dem Bauen mit Beton ab den 1950er Jahren. Natürlich bringt sie Aufmerksamkeit und Respekt für diesen lange missachteten Stil zum Ausdruck. Zugleich verwendet sie in ihren Fotomontagen Primärfarben, welche ihrerseits auf die Historie der osteuropäischen oder niederländischen konstruktiven Malerei und Skulptur verweisen: So gibt es auch fotografische Bilder von Christine Erhard, die einzelne dieser Kunstwerke in Ausschnitten integrieren oder zitieren – das kann übrigens schon die Rahmung einer Fotografie mit weißer Leiste und Schattenfuge sein.
Das alles muss man nicht wissen, wenn man in Düsseldorf die U-Bahn-Station an der Oststraße betritt. Im Zwischengeschoss jeweils nach außen gewandt, so dass man sie nie gleichzeitig sehen kann, hängen zwei großformatige Fotomontagen von Christine Erhard über den Rolltreppen. Mit der Annäherung über den Treppen verändert sich sukzessive die Wahrnehmung der Darstellungen. Beide zeigen Plätze mit Passanten, einmal im Gegenüber mit einer Betondecke, einmal als Aufsicht im Außenraum. Farbformen liegen im und über dem Geschehen. Dann sieht man, dass im einen Bild die beiden Männer identisch sind und im anderen verschiedene Perspektiven miteinander kollidieren. Sofort deutet sich das Konstruierte und Gebaute an und lässt im Kippen der Ansicht eine Art Puppenbühne entstehen, erst recht indem sich eine überlebensgroße Röhre auf dem Pflasterstein als Filzstift zu erkennen gibt.
Christine Erhard wurde 1969 in Crailsheim bei Stuttgart geboren. Sie lebt in Düsseldorf, in den letzten Jahren wurde sie zu Gast- und Vertretungsprofessuren u.a. an die Hochschulen in Bremen, Dortmund, Wuppertal und Siegen berufen. Selbst hat sie an der Kunstakademie Düsseldorf bei Fritz Schwegler studiert; dort begann sie mit Skulptur: Mitte der 1990er-Jahre datieren ihre Werke mit Stühlen und Tischen, die durch Eingriffe in die Struktur zu eigenständigen, unsicheren, ästhetisch neu erfundenen „Dingen“ im Interieur werden.
In den Fotografien nun stellt sich erneut die Frage, wie sich die Konstruktion zum Menschen und sich dieser zum Gebauten verhält. Die skulpturale Objekthaftigkeit verbleibt hier im Zwischenschritt, den Christine Erhard eben nicht ausstellt. Aber sie greift in die Ausstellungsräume selbst ein, überzieht etwa die Wände mit einem seriellen Muster oder streicht – wie bei ihrer Einzelausstellung im Museum für Photographie in Braunschweig 2016 – einzelne Wand- und Deckensegmente in einer Primärfarbe. Und sie gibt einzelnen ihrer Fotografien schräge Kantenverläufe und lässt Teilflächen sogar in den Raum klappen, so dass die Schatten plötzlich real sind. - Aber ist der Aufwand für die einzelne Fotografie nicht enorm? Christine Erhard nickt, darum gehe es ihr auch: für das eine, noch dazu analoge Bild die Aufmerksamkeit zurückzugewinnen, die es in den Zeiten des Internets mit dessen Informationsflut und etwa durch Instagram verloren hat. Ihre Fotografien verfügen über narrative, deskriptiv historische, emotionale und ästhetische Ebenen, wobei sie noch das Körpergefühl und die Situation des Individuums in der urbanen Zivilisation ansprechen.
Christine Erhard
Building Images, 27.9.-10.11.
im Museum Temporär, Schloßstraße 28-30 in Mülheim/Ruhr
Di-Fr 10-18, Sa, So 10-14 Uhr
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