Im Atelier in Büderich öffnet Helfried Hagenberg vorsichtig eines seiner Buchobjekte. Aus dem weißen Papier ist eine geometrische Form präzise herausgeschnitten, dabei von Blatt zu Blatt minimal so verschoben, dass sich in der Tiefe die Illusion etwa einer Kugelhälfte oder einer Spirale ergibt, welche sich durch das Buch windet und der wir nur im Blättern folgen können. Aber was wir fokussieren, ist tatsächlich eine ausgesparte Form. Und erst wenn das Buch geschlossen ist, also im Dunkel zwischen den Buchdeckeln, fügen sich die Ausschnitte zur „eigentlichen“ Form zusammen: im Nicht-Sichtbaren. Viel ist bei diesen Objekten in die Vorstellungskraft verlegt, das aber gelingt infolge der Stereometrie der Raumkörper wie selbstverständlich.
Helfried Hagenberg entwickelt seine Buchobjekte auf der Grundlage mathematischer Bestimmungen wie der Fibonacci-Folge und dem Satz des Pythagoras. Sein „Material“ sind normierte Geschäftsbücher eines bestimmten Herstellers in der Standardgröße mit karierten Seiten, in die er höchst präzise mit dem Skalpell schneidet. Hagenberg selbst spricht bei der Mehrzahl seiner Buchobjekte von „psaligrafischen Skulpturen“: Sie sind (flächige) Scherenschnitte, welche die negative Kontur (räumlich) schichten. Die auf den Millimeter genauen Abstufungen erinnern mitunter noch an Treppenanlagen – überhaupt an architektonische Details, auch in der perspektivischen Verkürzung – oder an Schnitte durch Gesteinsschichten, dann wieder an weich fallende Vorhänge. Mit ihrem taktilen Potential im strahlenden Weiß lassen sie sich ohnehin ausgesprochen sinnlich empfinden. Die Zeit als Prozess des aktiven entschleunigten Umblätterns wie auch der Veränderung des zuständlich leeren Raumes ist den Buchobjekten eingeschrieben. Bei aller Strenge zwischen Konstruktivismus und Konzept aber bleibt Hagenbergs Gestaltung seiner psaligrafischen Skulpturen variabel und überraschend. Er hat einzelne Bücher übereinander montiert, so dass sich der Leerraum durch alle Buchkörper fortsetzt, und er hat mehrere geöffnete Bücher nebeneinander gelegt, wobei sich eine geschwungene horizontale Linie über die Bücher hinweg verändert. Auch hat er mit mehreren Büchern genau vermessene Felder angelegt.
Helfried Hagenberg ist ein Pionier des künstlerischen Zugriffs auf das Medium Buch. Bereits 1972 hat er sein erstes Buchobjekt angefertigt. 1977 ist er mit Buchobjekten (wie aus Düsseldorf auch Ulrich Erben, Axel Heibel und Milan Mölzer) auf die documenta eingeladen. Eine seiner dortigen Werkbeschreibungen lautet wie folgt: „Entwicklung eines Hohlkörpers, ausgehend von einem gleichschenkligen Y zu einem gleichschenkligen Sechseck unter Rückkehr zur Ausgangsfigur“, als Prozess, der über 192 Blättern vollzogen wurde (Psaligrafische Skulptur 6, 1974-76). Hagenberg hat in den wesentlichen Museen, die sich mit Buchkunst beschäftigen, ausgestellt und ist in den wichtigen Sammlungen vertreten. In rigider Trennung der Bereiche hat er außerdem Kommunikationsdesign gelehrt. Von 1966 bis zu seiner Emeritierung war er Professor an der Fachhochschule Düsseldorf. Seit 2007 ist er als Gastprofessor an mehreren Universitäten in China gefragt und unterrichtet dort jährlich für mehrere Monate.
Helfried Hagenberg wurde 1940 in Hannover geboren; in diesen Wochen begeht er seinen „runden“ Geburtstag. Er hat an der Kunstakademie Düsseldorf erst Bildhauerei, dann Architektur mit dem Schwerpunkt auf Stadtplanung studiert. Seine ersten Werke sind abstrakte Skulpturen. Sie beinhalten aber bereits die Möglichkeit der Veränderung, also die Partizipation des Betrachters (bei den auseinander zu nehmenden oder zu verschiebenden Gussplastiken), bzw. das Fragmentarische, also die gedankliche Vervollkommnung (bei den stereometrischen Marmorskulpturen). Von 1975 bis 1978 war er mit seiner Familie jährlich auf den Peloponnes eingeladen, um Marmorskulpturen zu verwirklichen. Noch heute sind ihm die Buchobjekte wichtig, die er bei diesen Aufenthalten geschaffen hat. Dazu hatte er recyclte Papierbögen der Natur mit ihrer Witterung ausgesetzt: Hinweise auf die emotionale Seite seiner rationalen Buchobjekte. Später entwickelt er außerdem Bilder auf Papier im expressiven monochromen Farbauftrag, in den er noch Buchstaben oder Zeichen lapidar eingeschrieben hat, und großformatige Radierungen, bei denen die Druckplatte in der Natur gelegen ist. - Vielleicht sind ja das (zeichnerische) Herausnehmen gegen den Widerstand des Materials und die Hinwendung zu den Negativwerten das, was die verschiedenen künstlerischen Medien besonders verbindet. Die Farbe aber verwendet Hagenberg in den letzten Jahren auch in seinen Buchobjekten, indem er – nun in anderen Formaten – die Seiten, die am Rand teils beschnitten sind, ganzflächig mit ihr versieht. Aber auch hier bleibt es dabei: Erst der Betrachter vollendet das Werk.
Für das Frühjahr bereitet die Stadtbibliothek Meerbusch eine Ausstellung mit Helfried Hagenberg vor.
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