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Diese wahnsinnig epileptische Stadt

Die biograph Buchbesprechung von Thomas Laux

Schon bald nach Erscheinen des Buches im Jahre 1925 waren die Kritiker sich einig – John Dos Passos habe mit „Manhattan Transfer“ den Roman revolutioniert. Ein Klassiker des Genres, eine Referenzgröße in Sachen Großstadtroman, so die einhellige Meinung. Der Roman hat danach Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ beeinflusst und in den 1980er Jahren auch noch Paul Austers New–York–Trilogie. Jetzt ist er neu übersetzt worden, und das war eine gute Entscheidung.
Anhand von Einzelgeschichten bzw. –schicksalen erklingt eine Symphonie der Stimmen, eine Polyphonie, deren eigentlicher Tenor die Glückssuche oder schlicht der Überlebenskampf im (vermeintlich) verheißungsvollen Land Amerika ist. Von überall her gelangen zu Anfang des 20. Jahrhunderts legale wie illegale Einwanderer nach New York. Der Anpassungsdruck ist hoch, wer das Spiel nicht mitspielt, hat im Grunde schon verloren. Einige schaffen den Sprung in ein neues Leben, andere werden enttäuscht oder enden auf der Straße.
Zentral geht es aber um die spezifische Atmosphäre einer Großstadt, einer Metropole, die noch im Wachsen begriffen ist und deren einzelne Geschichten viel über eben diese Stadt verraten. Eine Handlung im eigentlichen Sinne ist, zumindest zu Anfang, auch nicht zu erkennen. Eine Handvoll Figuren taucht im Roman immer wieder auf, man erlebt, wie Schicksale immer wieder sich kreuzen oder im Leeren verschwinden: Getriebene, die nach der einen, ultimativen Chance greifen, beruflich oder privat. Zum Beispiel ist da ein gewisser George Baldwin, ein abgetakelter, mandantenloser Rechtsanwalt, der einen Serienfan an Saul Goodman aus „Better call Saul“ erinnern könnte. Als der Milchkutscher McNeil auf den Schienen von einem Güterzug erwischt und schwer verletzt wird, sieht George Baldwin seine Chance, die Eisenbahnchefs zu verklagen. Er sucht sofort die Familie auf, trifft auf McNeils Ehefrau Nellie und tönt schon mal, die Sache sei so gut wie gewonnen. Um was es ihm dann vor allem geht, ist, in Abwesenheit des Ehemanns eine Affäre mit ihr anzufangen – was eine Zeitlang dann auch der Fall ist. Wie gesagt: Nur eine Anekdote unter vielen, entscheidend ist die Art und die Taktfrequenz, in der erzählt wird.
Dos Passos verknüpft mit seiner Montagetechnik nicht nur diverse Einzelgeschichten, die das unterschiedliche Schicksal einzelner Leute beleuchten; erkennbar ist auch eine erste Kritik an diesem Moloch, denn einige reagieren bereits empfindlich auf all die Hektik, den Rauch, den Lärm. Man glaubt ohnehin beim Lesen des Buches, die Dampfnietmaschinen, das Kettengeklirr, die scheppernden Stahlträger tatsächlich zu hören.
Andere beschwören bereits ein früheres, vergangenes New York, eins, das betulich und überschaubar war, noch andere klagen über die vielen Zugereisten und äußern sich rassistisch: „Die Stadt wimmelt von Juden und irischem Abschaum.“ Es gibt seriösere Einlassungen, in denen die Ambivalenz der Großstadt in persönliche Entscheidungen münden, das Motiv der Flucht aus der Stadt erscheint dann bald ebenso groß wie der Impuls, sie sich einzuverleiben. Und wie eine brandaktuelle Zustandsbeschreibung liest sich die Kritik an den Umtrieben der Wall Street: „Zehn Jahre habe ich spekuliert und Aktien von Firmen gekauft, deren Namen ich noch nie gehört hatte, und jedes Mal habe ich daran verdient.“ Ein gewisser Herfy fragt genervt: „Warum zum Teufel leben Menschen eigentlich in Städten?“ Die heute brisante Frage nach einer kompletten Verbannung der Autos aus den Städten wäre einem vor 100 Jahren schlechterdings absurd vorgekommen.

John Dos Passos: Manhattan Transfer. Roman. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016, 540 S., 24.95 €

aus biograph 08/2016

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