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Eine französische Erziehung

Die biograph Buchbesprechung von Thomas Laux

Wie bitte? Redet da zu Anfang tatsächlich ein Embryo und tut so, als hätte er bereits eine Art Durchblick, ahnend, dass seine Geburt kurz bevorsteht? Tastet er und erkennt er Dinge im Mutterbauch, als hätte er dafür bereits ein hinreichendes Bewusstsein? Ja, genau so muss man sich das vorstellen, was der vor allem als Charakterschauspieler bekannte Christian Berkel in einer kühnen Ausgangsdisposition uns hier auftischt – den Einblick in etwas zu bekommen, was schlechterdings nur imaginiert werden kann.
Damit kein falscher Eindruck entsteht: Der überwiegende Teil des Buches ist nicht im Mutterbauch, sondern in einer konkret definierten Vergangenheit verortet, sodass auch gar nicht genau zu sagen ist, wozu Berkel dieses Ausgangsszenario gewählt hat (sieht man davon ab, dass er eine Art „Geburtstrauma“ in einem übertragenen Sinne am Ende des Buches nochmals durchlebt). Tatsächlich geht die Geschichte nämlich unabhängig davon flott voran, der Berkelsche Protagonist – unverkennbar er selbst, hier aber, vermutlich um die autobiografischen Bezüge nicht zu deutlich werden zu lassen, „Sputnik“ (russisch für „Weggefährte“) genannt – träumt bereits als kleiner Junge von einer Karriere am Theater. Er hat sich Gustav Gründgens zum Vorbild erkoren, will am liebsten gleich den Mephisto spielen. Dabei ist er gerade sieben Jahre alt, die Dinge im Elternhaus sind trotz eines gut bürgerlich situierten Hintergrunds eher streng ausgelegt und phasenweise sogar gewaltdurchsetzt, der jähzornige Vater, immerhin HNO–Arzt und Fan des Philosophen Immanuel Kant, prügelt auch gerne mal auf den Filius ein.
Andererseits denken die Eltern durchaus an die Zukunft ihres Sohnes, der Junge wird in Berlin auf eine deutsch–französische Schule gesteckt – was zur Folge hat, dass er in jungen Jahren auch ins westliche Nachbarland gelangt und länger dort bleiben kann, ein Umstand, und das bildet den Hauptstrang dieses Buches, der einen starken Einfluss auf Leben und Karriere haben soll.
Während man mit autobiografischen Romanen, die die 60er und 70er–Jahre zum Thema haben, gerade hierzulande sattsam versorgt ist, kann Berkel zumindest auf ein anderes relevantes Umfeld, eine andere soziologische Prägung, verweisen. Zwar erkennt man gerade zu Anfang der kurzen Berlin–Phase noch einige typische Momente eines rundherum bräsigen bundesrepublikanischen „Stilllebens“ (mit all den Ingredienzien einer analogen Fernsehwelt z.B.); doch ist es die in Frankreich verbrachte Zeit, die zur emotionalen Sensibilisierung und intellektuellen Schärfung des Heranwachsenden entscheidend beiträgt.
Sogleich ist er vom dortigen Lebensstil beeindruckt, von den gewährten Freiheiten, und er will überhaupt nicht mehr nach Hause zurück. Man staunt über die (angebliche? tatsächliche?) Frühreife: Die sexuelle Erziehung ist für den gerade 15–Jährigen, wie sind im Jahr 1972, durch einige Bordellbesuche, die Freund Boutch organisiert, nachhaltig befördert – auch wenn man anzweifeln darf, dass er bei den Pariser Dirnen tatsächlich einen „Studentenrabatt“ einheimsen kann. Mit erwähntem Boutch lernt er vielmehr die französische Literatur kennen, Proust etwa, Camus‘ „Fremden“ vor allem. Seine Identitätssuche, denn darum geht es, bleibt kompliziert, sie hat Brüche – was man später besonders spürt, wenn Berkel, mittlerweile dialektisch sensibilisiert, auf Untiefen und Widersprüche der deutschen Geschichte zu sprechen kommt (Stichworte: Nazis, Holocaust, RAF, deutscher Herbst).
Schließlich ist man mit ihm wieder in Deutschland zurück, wobei man als Biograph–Leser aufhorchen darf: In seiner Düsseldorfer Zeit verbuchte Berkel so manch einen drogenbedingten Absturz, etwa im Ratinger Hof. Für den Absacker–Tequila war übrigens die Uel zuständig.  
Christian Berkel: Sputnik. Roman. Ullstein Verlag, Berlin 2025, 379 S., 26.-€

aus biograph 11/2025

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