Im Jahr 1974 gab der amerikanische Anthropologe Ernest Becker in seinem mit dem Pulitzer–Preis ausgezeichneten Werk „Dynamik des Todes“ einen denkwürdigen Satz von sich: „Das Leben wird nur erträglich, wenn der Mensch dauernd alkoholisiert ist“. So ein Statement ginge heute natürlich nicht mehr ohne einen Aufschrei im Netz durch. Liest man Colette Andris kleinen Roman aus dem Jahre 1929, gerade erstmalig auf Deutsch erschienen, bekommt man eine Vorstellung davon, was der Satz impliziert – wobei, damit hier kein Missverständnis entsteht: nach einer freundlichen Bestätigung im Sinne Beckers sieht es dann nicht aus.
Zunächst ist schwer zu sagen, womit es bei der jungen Guita angefangen hat, womöglich lag es an dem Schmetterlingsnetz, das die Achtjährige von ihren Eltern nicht bekam, woraufhin sie aus Frust den heimischen Keller aufsuchte, um sich dort aus einem Fass einen Becher Rotwein abzuzweigen und sich genussvoll einem ersten Rausch hinzugeben. Kleine Ursache, große Wirkung, fortan soll sie Gefallen an derartigen Zuständen entwickeln. Ihre jugendlichen Sinne werden in einen fatalen Modus aus Erwartung und Befriedigung versetzt, der damit einhergehende körperliche Zusammenbruch wird zwar noch wahrgenommen, letztlich aber auch gerne verleugnet.
Und schon bald geht es an Hochprozentiges, Guita entdeckt Absinth und Champagner. Da Andris‘ Geschichte in den hedonistisch geprägten 1920er–Jahren, den Pariser „années folles“, angesiedelt ist, wäre man vielleicht noch geneigt, dies alles, nach Krieg und Entbehrung, quasi entschuldigend als eine neue Lust am Leben zu erklären. Guitas Alkoholismus wäre somit weniger einer sozialen Schieflage oder einem persönlichen Drama geschuldet, als vielmehr Ausdruck der schieren Freude am Berauschtsein, wofür diese mythisch umrankten Jahre ja stehen. Doch das führte in die Irre.
Guita ist eine betörend hübsche Frau und versendet immerzu frivole, sexuelle Signale, jedes Angebot von Männern nimmt sie gerne an. Ausgerechnet ein Arzt zeigt sich besonders übergriffig, nutzt seine Autorität und seine Praxis als Ort, um sich an ihr zu vergehen. Guita hakt das Ereignis ab, zu sehr sind ihre Sinne mit Begehren und Befriedigung konnotiert, moralische Bedenken nicht vorgesehen. Lieber sinniert sie über Cocktails, die ihr Wärme, Harmonie und Wohlempfinden versprechen. Nach und nach verliert sie jegliches Maß. „Bald schon weiß Guita nicht mehr, was sie gerade trinkt“, heißt es lapidar dazu. Sturzbetrunken fällt sie einmal über eine Brüstung und landet im Krankenhaus. Später inhaliert sie Äther und empfindet es als „Befreiung“, das Leben nicht mehr zu spüren. Spätestens hier sollten alle Alarmglocken läuten, doch niemand in ihrer Umgebung scheint die Schwere ihres Zustands wahrzunehmen.
Zumal sich die Dinge vorübergehend normalisieren: Für Jean–Pierre, einem glühenden Anti–Alkoholiker, ist sie sogar bereit, auf alles zu verzichten, aber der junge Mann stirbt bei einem Unfall. Durch den Verlust geht es von vorne los, selbst wenn sie alles versucht, um wieder in die Spur zu kommen. Am Ende sucht sie ihr Heil in der Religion, besucht Kirchen, findet letztlich Trost aber doch nur in den Cafés. So schließt sich der Kreis. Sie ist 26 und beschließt, sich umzubringen; man findet sie verletzt (wie genau sich das abspielt, wird nicht gesagt).
Colette Andris war zunächst Schauspielerin und Nackttänzerin in Paris, sie starb 1936 mit nur 35 Jahren an Tuberkulose. Aus heutiger Sicht erscheint es bemerkenswert, dass in diesem auffallend locker vermittelten Panoptikum des Niedergangs keine Moralkeule geschwungen, andererseits aber auch nichts beschönigt wird. Insbesondere in dieser Hinsicht ein erstaunliches Buch.
Colette Andris: Eine Frau, die trinkt. Roman. Aus dem Französischen von Jan Rhein, Wagenbach Verlag, Berlin 2025, 156 S., 22.-€
aus biograph 10/25

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