Kamel Daouds Roman „Huris“ (gemeint sind die im Islam versprochenen Jungfrauen im Paradies) mutet dem Leser einiges zu. Wahlweise fasziniert oder schockiert folgt man dem inneren Monolog einer jungen Frau, die seit ihrem sechsten Lebensjahr nicht mehr sprechen kann, da ihr von fanatisierten Islamisten die Kehle durchschnitten wurde. Den frühen Anschlag hat Aube zwar überlebt, dafür am Hals aber ein Loch behalten, eine siebzehn Zentimeter lange Narbe, die sie zwingt, durch eine Kanüle zu atmen. Aube wendet sich in ihrem Monolog an die ungeborene Tochter in ihrem Bauch, und klar wird: eine Mutter will sie nicht mehr werden. Vielmehr denkt sie an eine Abtreibung im Sinne des ungeborenen Kindes, denn sie will es vor dem Schlimmsten bewahren, heißt: vor dem Leben. „Ich denke an dein Wohl, und dein Wohl ist es zu sterben.“
Ein Statement, das man erst mal sacken lassen muss. Es gilt nun, den Blick zu weiten und in die Geschichte eines Landes einzutauchen, in dem schon immer eine von Männern dominierte, archaische Politik herrschte. Aubes führt in ihrer Erzählung vor Augen, wie ein religiös erstarrtes Denken insbesondere das Selbstverständnis von Frauen unterminiert hat. Auffällig erscheint dabei ihr Tonfall, der kaum Empörung verrät und auch nur selten Emotionalität, man folgt dem nüchternen Vortrag eines gesellschaftlich sanktionierten Skandals.
Aube steht als Besitzerin eines Friseursalons eigentlich privilegiert da. Als eines Tages dort eingebrochen und vieles zerstört wird, fällt ihr Verdacht sofort auf den Imam der gegenüberliegenden Moschee, mit dem sie schon länger im Clinch liegt. Dieser Mann artikuliert zu gerne seinen Frauenhass – und steht gleichsam für das reaktionäre Denken eines Landes, das die kurzzeitigen Ansätze leichter Liberalisierung oder gesellschaftlicher Versöhnung bereits wieder ad acta gelegt hat. Daouds Kritik richtet sich damit auch an die offizielle Verdrängungspolitik einer Regierung, die selbst jede öffentliche Erinnerung an die Morde, Überfälle und Vergewaltigungen unter Strafe stellt. Zwar wird symbolisch noch ein „Tag der Versöhnung“ gefeiert, doch der ist nichts anderes als der Versuch, ein für alle Mal den Mantel des Vergessens über die Vergangenheit zu werfen. Was an humanitär relevantem Rest übrig bleibt, ähnelt einem Abgesang: „In Algerien weiß man nicht, was man mit den Opfern des Bürgerkriegs anfangen soll, man lässt sie unbehelligt, wartet, dass sie sterben.“
Daoud beleuchtet anhand seiner Figur eine Fülle von Verwerfungen, offiziellen Lügen und sozialen Defiziten. Als Hauptverantwortliche macht er die religiösen Führer aus, eine erkennbar korrupte, menschenverachtende Clique. Dass Algerien sich von Kolonialismus, Terror und Bürgerkrieg nie erholt hat, belegt Daoud auch anhand weiterer Stimmen. Ein größerer Erzählstrang ist etwa der Figur Aïssa gewidmet, einem ehemaligen Buchhändler, der sein kümmerliches Überleben dadurch generiert, dass er in seinem Lieferwagen Kochbücher an Buchhandlungen liefert. Er nimmt Aube eines Tages mit, um sie in ein entlegenes Krankenhaus zu bringen – und kommt aus dem Erzählen, dem Auflisten all der Gräueltaten, gar nicht mehr heraus. Er kultiviert freilich einen Spleen: Alle Ereignisse, die sich zwischen 1990 und 2000 ereignet haben, hat er minutiös verinnerlicht, er kennt sie auswendig. Ständig sagt er zu ihr: nenne mir eine Zahl, irgendeine – um sie dann mit einem Datum und einem konkreten Mordfall zu verknüpfen. Er gerät dabei nie ins Stocken oder in Verlegenheit, der Stachel sitzt tief. Dieses mit dem Prix Goncourt prämierte Buch lässt einen jedenfalls nicht kalt.
Kamel Daoud: Huris. Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2025, 398 S., 28.-€
aus biograph 01/2026

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