Neben seinen zahlreichen Romanen hat Ralf Rothmann bislang auch eine Reihe von Erzählbänden vorgelegt, die sich durch eine verblüffende Bandbreite an Themen auszeichnen. Seine Kreativität scheint unerschöpflich, und mit beeindruckender (Stil–) Sicherheit bringt er seine Geschichten zur Entfaltung. Am Ende bietet er uns gerne noch einen Strauß an Neurosen und ähnlichen – typisch deutschen? – Sonderheiten zur gefälligen Ansicht. Im neuen Erzählband scheinen seine sezierenden Skalpelle noch mal ein Stück tiefer in die Realität einzudringen und überhaupt eine Spur schärfer geschliffen zu sein.
Neun Erzählungen also, alle subtil gewoben und komplex, nachhallend wie ein Spitzenwein. Da und dort sticht soziales Ambiente hervor, was einem bekannt vorkommt, Rothmann hat nie verhehlt, wo er lange gelebt hat und woraus sich seine Motive speisen (Stichwort „Kohlenpott“) – mit all den Insignien eines dauergrauen Biotops: Zechensiedlung, Arbeiterfamilie, Prekariat. Gleich in der ersten Erzählung („Normschrift“) werden wir in die frühen 1970er–Jahre versetzt, als man Homosexuelle nach einem damaligen Paragrafen noch despektierlich als „175er“ bezeichnete; als es noch Autokinos gab, wo der „Aufklärer“ Oswalt Kolle den Deutschen sagte, wo, pardon, der Hammer hängt und sich die allgemeine Verklemmtheit eine kurze Auszeit im Fond des Opel Kadetts gönnte. Eine derartige atmosphärische Grundierung macht die Geschichten lebensnah und authentisch, doch das Zeitkolorit besteht nicht um seiner selbst willen, nahezu alle Geschichten entwickeln ihren dramatischen Inhalt aus der schieren Banalität des Faktischen. Plötzlich tun sich da psychologische Abgründe auf, insbesondere, wenn ein vermeintlich funktionierender Schutzpanzer jäh zerbricht und Hässliches zu Tage fördert. Das läuft meist über die Sprache, im verräterisch rasch Dahingesagten, aber auch im grundsätzlich verlogenen Verhalten. In „Die Melodie bei Nacht“ zieht ein junges Pärchen in die oberste Wohnung eines vermeintlich „guten Hauses“. Als sich die beiden bei den einzelnen Hausparteien vorstellen, wird ihnen von dem älteren, unter ihnen wohnenden Ehepaar, das vor allem durch Ressentiments auffällt, nur Ablehnung zuteil. Rothmann führt uns in eine verstörende Parallelwelt ein, bietet einen Blick hinter die großbürgerliche Kulisse, dorthin, wo obskure Dinge schlummern und ein ganzes Arsenal seltsamer Macken ein schauriges Eigenleben führt. Es ist zum Gruseln.
Während man aus bequemer Lesedistanz noch den Kopf schütteln kann, zeigen andere Geschichten den Einbruch des Bedrohlichen in eine vormals heile Welt; es irritiert, wie rasch Sicherheiten zerbröseln: In der Erzählung „Eine kleine Metall–Unterhaltung“ benötigt Matthias, ein von einem Aneurysma niedergestreckter Mann, eine Pflegekraft. Vjosa, verwitwete Albanierin Mitte fünfzig, gelangt in sein Haus, und durch die intim werdende Situation der Pflege kommt man sich auch sexuell näher. Als sich ihre beiden Söhne „zum Besuch“ ankündigen, kippt die Idylle. Vjosa ist plötzlich nicht mehr wiederzuerkennen, wirkt verdruckst und devot angesichts ihrer brutal sich aufplusternden Macho–Söhne. Die wiederum kommentieren das sexuelle Verhältnis ihrer Mutter auf eigene, höchst ordinäre Weise. Dass ihre Mutter verwitwet ist, spielt für sie keine Rolle, schließlich sei sie „für immer verheiratet“. Bevor sie sich nach rüpelhaften Beleidigungen gegenüber Matthias vom Acker machen, eskaliert die Situation, es kommen sogar (falsche) Waffen ins Spiel.
Es ist, und das gilt für alle Erzählungen, als reiße Rothmann uns die Scheuklappen von den Augen und zwinge uns dazu, die Dinge von ihrem Wesenskern her zu begreifen, womit jene gemeint sind, die sich komplett gleichgültig zeigen gegenüber unseren Empfindsamkeiten.
Ralf Rothmann: Museum der Einsamkeit. Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2025, 268 S., 25.-€
aus biograph 06/2025
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