Dieses Buch scheint, obwohl bald 90 Jahre alt, auf perfekte Weise in unsere Zeit zu passen, erst recht mit Blick in Richtung USA: Upton Sinclairs Geschichte vom Aufstieg und (moralischen) Fall des Autogiganten Henry Ford reflektiert auf verblüffende Weise, wie finanzieller Reichtum, Macht sowie ein hinreichendes Maß an Chuzpe eine unheilvolle Mesalliance eingehen und einen gesellschaftlich bedenklichen Effekt zeitigen.
Als „Bezwinger der Pferde“ wurde der junge Henry Ford zu Anfang bewundert, da arbeitete er noch als Erfinder in einer Elektrizitätsgesellschaft, tüftelte an den ersten Autokonstruktionen. Witzigerweise (aus heutiger Sicht) wollte sein Direktor, dass er seine unsinnigen Pläne bezüglich eines Benzinverbrenners aufgab und stattdessen sofort auf Elektrizität setzte. Ford wird hier als Idealist geschildert, der alles daran setzt, die von ihm gestartete Produktion gleich so vollumfänglich wie möglich zu gestalten, Autos in Serie zu bauen und sukzessive auch den Preis pro Wagen zu senken, damit alle Menschen etwas davon haben können. Ford beweist zu Beginn eine starke soziale Ader, das Wohl der Werkarbeiter liegt ihm sichtlich am Herzen.
Parallel und als Gegenentwurf zu Fords Aktivitäten erzählt Sinclair das Schicksal des aus armen Verhältnissen stammenden Abner Shutt, der als Schrauber bei Ford anheuert und es im Laufe der Zeit sogar zum Vorarbeiter bringt. Doch weitere Aufstiegsmöglichkeiten sind ihm verwehrt. Letztlich wird er nur ein kleines Rädchen im Getriebe und wie alle anderen Arbeiter Zuträger und zugleich Opfer eines nach und nach aus dem Ruder laufenden Kapitalismus sein.
Zunächst aber sieht es bestens aus, Ford revolutioniert die Arbeitsbedingungen, führt Bonus–Zahlungen ein, verkürzt die Arbeitszeit von neun auf acht Stunden. Zu seinem sozialen Engagement gesellt sich seine grundpazifistische Einstellung. Als in Europa der Erste Weltkrieg ausbricht, bezieht er öffentlich Stellung: Niemals würde er für den Krieg arbeiten lassen und „nichts an kriegführende Mächte verkaufen“, er droht damit, jeden Arbeiter rauszuwerfen, der sich zur Armee meldet.
Doch als mit der Zeit einzelne Produktionsabschnitte durch Automatismen optimiert werden können, sieht er sich bemüßigt, zahlreiche seiner mittlerweile 200.000 Angestellten zu entlassen. Der Unternehmer Ford entwickelt sich zum Ausbeuter, lässt Empathie und sozialen Input vermissen. Und der Widerstand gegen ihn nimmt zu, er selbst schützt sich bald mit einer Privatpolizei. Urplötzlich werden weitere Verwerfungen sichtbar, Ford brabbelt das Zeug einer „Judenverschwörung“ nach, sieht sich bald in einem „Kreuzzug gegen das neue Amerika“ (womit er vor allem den neuen Tanzstil meint, den sich „Juden und Bolschewisten“ ausgedacht hätten). Wie in Europa ist der Antisemitismus die Seuche der Zeit, und auch Abner wird davon erfasst; mit seinen gerade mal 48 Jahren ist er körperlich bereits ein Wrack, mit ihm geht es nur bergab. Ford wiederum vermag auch in schwierigen Zeiten seine Schäfchen ins Trockene zu bringen. Trotz Wirtschaftskrise, Depression, Bankenkrach und zehntausender Obdachlose allein in Detroit, hat er stets das richtige Näschen, übernimmt marode Banken und potenziert seinen Reichtum.
Sinclair ist mit dem Roman am Puls der Zeit, vor allem die Parallelen zu wirtschaftlichen wie politischen Machtkonstellationen heutiger Zeit fallen ins Auge. Etwas zu kurz gerät womöglich der literarische Anspruch, Sinclair jongliert gern mit Zahlen und nüchternen Bestandsanalysen, was zu Lasten von Dynamik und Spannung geht. Was bleibt, ist Sinclairs literarisches Engagement, man liest derartig eindeutige Parteinahmen heute schon eher mit Verblüffung.
Upton Sinclair: Am Fließband. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Jörg Schröder. März Verlag, Berlin 2025, 295 S., 24.-€
aus biograph 12/2025

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