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Kosmische Zwillinge

Die biograph Buchbesprechung von Thomas Laux

Der hierzulande weitgehend unbekannte Jean–Baptiste Andrea machte 2023 auf sich aufmerksam, als er unerwartet den französischen Goncourt–Preis erhielt. Kaum jemand hatte ihn auf dem Zettel, zumal sein bis dato vierter Roman, jetzt auf Deutsch vorliegend, in einem Klein(st)verlag erschienen war, nicht bei den üblichen Verdächtigen. Vermochte seine Geschichte die Jury wegen ihrer Originalität oder ihres Stilbewusstseins zu beeindrucken? Wohl kaum. Es geht hier eher konventionell zu, man folgt zwei antagonistisch aufgestellten Protagonisten durch das letzte Jahrhundert und erlebt allerlei Schicksalsschläge; die wirken vor allem dann überzeugend, wenn sie durch objektive Geschehnisse, Krieg oder relevante gesellschaftliche Umbrüche, unterfüttert sind.
Ein junger, mit einem Meter vierzig kleinwüchsiger und aus ärmlichen Verhältnissen stammender Mann, Mimo, entdeckt in jungen Jahren sein Talent für die Bildhauerei. Wir befinden uns zu Beginn des 20. Jahrhunderts im norditalienischen Pietra d’Alba. Mimo wird die Bildhauerei zu seinem Beruf machen und später spektakuläre Erfolge feiern. Schon früh begegnet er Viola aus dem adligen Hause der Orsinis. Sie ist eine junge Frau voller Power, gebildet, eigensinnig und mit emanzipatorischen Ideen auffallend. Die beiden mögen sich, ziehen sich an, gehen sich aber auch immer wieder aus dem Weg, es entwickelt sich eine seltsame Dialektik von Nähe und Distanz. „Kosmische Zwillinge“, seien sie, behauptet Viola, die schlussendlich allerdings nichts tut, um ihm ihr Herz komplett zu öffnen.
Überhaupt fällt sie stärker durch ihre Grillen auf, etwa, wenn sie sich auf Friedhofsgräber legt und mit den Toten kommuniziert, oder wenn sie eine eigene Flugtheorie entwirft. Bei einem Flugtest stürzt sie ab und verletzt sich schwer. Später wird sie mit einem anderen Mann verheiratet, ihre Eltern wollen es so, doch die Ehe bleibt kinderlos, was weitere Konflikte nach sich zieht. Die Geschichte mit Mimo scheint in diesem Moment beendet – und schwelt doch diffus weiter.
Mimo ist mittlerweile der Vorzeige–Skulpteur der Orsinis und soll im Auftrage des Vatikans eine Pietà erschaffen. Es sind die frühen 1930er–Jahre, der Faschismus ist Teil des Alltags, an Mussolini scheiden sich die Geister. Anhand des nationalistischen, in Teilen antisemitischen Zeitgeistes (der sogenannten „Judenfrage“, mit der eingestreuten Spitze, dass auch der Vatikan bzw. Pabst Pius XI. sich mit dem Duce versöhnt), zeigt sich, wer noch Rückgrat besitzt, wer nicht. Es ist der Moment, da dieser Roman deutlich an Fahrt aufnimmt und auch die moralisch relevanten Fragen stellt, zumal Mimo es egal zu sein scheint, ob er für die Faschisten Aufträge erfüllt. Viola, die sich politisch radikalisiert, wirft ihm vor, sich „am Aufbau einer verbrecherischen Welt“ zu beteiligen. Doch ihm, dem Unpolitischen, ist vor allem daran gelegen, in die königliche Akademie aufgenommen zu werden: im Grunde trennen die beiden „kosmischen Zwillinge“ ideologisch gesehen Welten.
So folgt man einem Pärchen, das keins ist, durch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. J.–B. Andrea erzählt episch, erzählerische Ökonomie ist seine Sache nicht. Der Plot gehorcht mit seiner breit angelegten Disposition und den mehr oder weniger erwartbaren Brüchen dem Schema eines gängigen Entwicklungsromans. Die dramatische Akzentuierung des Geschehens wirkt vor allem gegen Ende bemüht, wo schließlich noch ein Erdbeben dem zähen Ringen um Selbstfindung und gesellschaftlicher Positionierung den Akteuren ein jähes Ende setzt. Das Dorf Pietra d’Alba wird zerstört, sinnigerweise bleibt nur der Friedhof mit seinen sprechenden Toten intakt – zugegeben eine nette maliziöse Ironie.
Jean–Baptiste Andrea: Was ich von ihr weiß. Roman. Aus dem Französischen von Thomas Brovot. Luchterhand Literaturverlag, München 2025, 506 S., 24.-€

aus biograph 07/2025

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