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Julian Schnabel und Willem Dafoe
Foto: La Biennale di Venezia

Die 75. Filmfestspiele in Venedig

Ein Festivalbericht von Kalle Somnitz, Silvia Bahl und Anne Wotschke

Nun ist es passiert! War Venedig das erste A-Festival, das vor drei Jahren mit "Beasts of No Nation" einen Netflix-Film in den Wettbewerb berief, so fügt sich in diesem Jahr ein weiterer zweifelhafter Rekord hinzu: Mit Alfonso Cuaróns ROMA gewann erstmals ein Netflix-Film den Hauptpreis. Ungerechtfertigt ist dies nicht, denn Cuarón ist ein Meisterwerk gelungen, dessen Qualitäten nach der großen Kinoleinwand schreit, doch Cuarón will auch das große Publikum, das er eher bei dem Streaming-Giganten vermutet.

Mit ROMA kehrt er nach seinem Ausflug ins All (GRAVITY) zurück zu seinen mexikanischen Wurzeln, die er schon in Y TU MAMÁ TAMBIÉN pflegte. Dies gelingt ihm mit einem Blick zurück auf seine wohlbehütete Kindheit, Erinnerungen an die großzügige Villa im Mittelklasse-Stadtteil Roma, an sein indigenes Kindermädchen, die indigene Köchin und seine Mutter, die die Familie zusammenhielt. In diese eigene, nur von Frauen bestimmte Welt, brachte lediglich sein Vater Unruhe, wenn er abends von der Arbeit zurückkam und die Probleme des Lebens mit nach Hause brachte. Davon gab es jedenfalls genug, 1970 in Mexiko. Es ist Wahlkampf und Luis Echeverría Álvarez, der gerade erst als Innenminister die Studentenunruhen mit dem Massaker von Tlatelolco niederschlagen ließ, will nun Präsident werden. Die Kinder bekommen davon kaum etwas mit, auch nicht von der Entfremdung ihrer Eltern, beides deutet Cuarón immer nur symbolisch an, und doch ist dieser Film nicht nur ein Portrait dieser Zeit. Cuarón hat die Perspektive gewechselt, er blickt als Erwachsener auf seine Kindheit, er erzählt nicht mit Kinderaugen, und so sieht er erstmals nicht nur das Kindermädchen, sondern auch die Frau in ihr, ihre Erinnerungen und Geschichten fließen so in den Film ein. Cuarón bedient sich dabei exzellenter Schwarzweiß-Aufnahmen, die seinen Film zu einem cineastischen Vergnügen machen.

Direktor Alberto Barbera hat es in den letzten Jahren geschafft, mit seinem Festival auch die Oscar-Saison zu eröffnen. Jedenfalls werden viele Filme des diesjährigen Programms auch bei den Oscars mitmischen. So z.B. der Eröffnungsfilm AUFBRUCH ZUM MOND von Regie-Shooting Star Damien Chazelle, der 2016 das Festival mit seinem wunderbaren Musical LA LA LAND eröffnete und später sechs Oscars gewann. Waren seine bisherigen Filme alle der Musik verpflichtet, so betritt er mit AUFBRUCH ZUM MOND Neuland und versucht, dem amerikanischen Traum vom Flug zum Mond pünktlich zum 50. Jahrestag neues Leben einzuhauchen. Dabei weiß er sich nicht so recht zu entscheiden, ob er den Schwerpunkt auf die Historie oder das Privatleben der Astronauten legen soll, ob er eine Hymne auf Amerika oder eben die Kehrseite dieser Medaille zeigen soll - die zahlreichen Entbehrungen, das harte Training und die immerwährende Todesgefahr. Er versucht beides, doch irgendwie gerät sein Film etwas unterkühlt, im beruflichen Teil zu technisch und im privaten nicht emotional genug.

Darüber hinaus gelang Barbera in diesem Jahr sein prestigeträchtigstes Line Up. Kein Wunder, er spielte einfach all die Filme, die Cannes aus politischen Gründen abgelehnt hatte. Das aber betraf nicht nur seine Netflix-Auswahl, sondern auch die Gender-Politik. Nur ein Film im Wettbewerb war von einer Frau, was er lapidar damit begründete, dass er Filme nicht nach Geschlecht, sondern nach Qualität aussuche. Inzwischen hat er auch bei diesem Thema zurückgerudert und Besserung gelobt, obwohl man ihn hier auch ein wenig in Schutz nehmen muss. Es gab zwar kaum Filme von Regisseurinnen, wohl aber solche aus weiblicher Perspektive oder mit starken Hauptdarstellerinnen.

Dazu gehört auch der Oscar-Anwärter A STAR IS BORN, der bereits in diesem Monat zu sehen sein wird und nebenstehend ausführlich besprochen steht.
Zu den großen Lieblingen des Festivals zählte der neue Film von Yorgos Lanthimos THE FAVOURITE, der sogar mit zwei Preisen ausgezeichnet wurde: Neben dem Großen Preis der Jury gewann die Hauptdarstellerin Olivia Colman die Coppa Volpi für ihre Rolle als kränkelnde und launische Monarchin. Nach THE KILLING OF A SACRED DEER schlägt Lanthimos hier das erste Mal mit einem adaptierten Drehbuch durchweg humorvolle Töne an und zielt mit hohem Unterhaltungsfaktor auf ein breiteres Publikum. Der gelungene Spaß in wunderbarem Dekor lässt allerdings ein wenig die verstörende Tiefe vermissen, die Lanthimos auf stilbildende Weise in das Greek New Wave Cinema eingebracht hat. Dafür dürfen nun Emma Stone und Rachel Weisz eine herrlich böse Schlammschlacht um die Gunst der englischen Königin Anne führen, die sich als empfänglich für weibliche Reize erweist und sich mit der Abhängigkeit eines Kleinkindes an ihre Berater und engsten Vertrauten ausliefert.

Die Australierin Jennifer Kent hatte mit ihrem Horrorfilm THE BABADOOK vor einigen Jahren das Genre neu belebt und folgte nun als einzige Frau der Einladung in den Wettbewerb. Ihr neuer Film THE NIGHTINGALE könnte durchaus aus einem Alptraum stammen, wäre er nicht Teil einer traurigen historischen Wahrheit. Mit einer so noch nie gesehenen expliziten Gewaltdarstellung schildert Kent die Folgen der brutalen Kolonialisierung Australiens und den Genozid an den Aborigines aus der Perspektive einer jungen irischen Mutter, die nach einer Reihe von Vergewaltigungen durch britische Offiziere schließlich auch noch Mann und Kind verliert. Sie selbst überlebt den versuchten Mord durch die Besatzer und beschließt an den Männern Rache zu nehmen. Unterstützung bekommt sie dabei von dem Aborigine Billy, der sie durch den dichten Wald Tasmaniens führt. Anfangs selbst noch in ihren rassistischen Vorurteilen gefangen, beginnt die junge Claire immer mehr Solidarität für ihren Mitstreiter zu empfinden und erkennt schließlich die Gewalt der weißen Männer als einen Zusammenhang: Gegen Eingeborene und Natur, aber auch die Frauen auf beiden Seiten. Neben den aus nächster Nähe gezeigten Gewalthandlungen, die sich kaum aushalten lassen, gelingt es Jennifer Kent, ihre Protagonisten im Kontrast dazu sehr liebenswert und mit einigem Humor in Szene zu setzen, so dass man bis zum Schluss mitfiebert.

Ein absolutes Highlight war Julian Schnabels AT ETERNITY'S GATE. Die Idee, einen Film über van Gogh zu drehen, kam ihm, als er mit seinem Drehbuchautor Jean-Claude Carrière eine van Gogh-Ausstellung im Pariser Musée d'Orsay besuchte. Jedes einzelne Bild habe zu ihnen gesprochen, erzählte Schnabel in Venedig, und als sie nach dem Besuch im Café saßen, hatten sie das Gefühl auf Zeitreise gewesen zu sein und zwei Stunden mit van Gogh verbracht und ihn dabei kennen und lieben gelernt zu haben. Genau dieses Gefühl wollte Schnabel auf die Kinoleinwand bringen, und mit Willem Dafoe fand er einen kongenialen Schauspieler, der nun hoffentlich endlich mal seinen längst verdienten Oscar bekommt. So gesehen hält Schnabel seinen Film nicht für eine Biographie, sondern für seine subjektive Vorstellung. Dabei leistet er sich einen erfrischend freien Umgang mit der Wahrheit, denn Fakten zu dem Künstler-Genie gibt es nur wenige, dafür viele obskure Geschichten, wie z.B. über sein abgeschnittenes Ohr oder auch seine Todesumstände. Für Schnabel ist klar, dass es Mord war, doch um die Wahrheit geht es ihm gar nicht. "Wahrheiten gab es immer schon viele, nicht erst seit Kurosawas RASHOMON, und wenn jemand nicht an Mord glaubt, dann ist es eben nur ein Film, mein Film." Für den hat er viele Stillleben, Landschaftsbilder und Porträts aus van Goghs Gemälden genommen, erweckt sie auf der Kinoleinwand zu neuem Leben, um sie anschließend von Willem Dafoe wieder malen zu lassen. Für ihn sei das eine spannende Zeit gewesen, berichtete Dafoe auf der Pressekonferenz, denn malen wollte er immer schon einmal, und Julien konnte es ihm beibringen. Auch wenn viele im Film verwendete Bilder von Schnabel selbst nachgemalt wurden und Dafoe nur die letzten Pinselstriche tätigte, wirkt er absolut echt und glaubwürdig. Ganz langsam taucht er in seine Rolle ein und irgendwann meint der Zuschauer mit dem tatsächlichen van Gogh unterwegs zu sein. Er lernt seinen Charakter lieben, folgt seinen manchmal etwas verworrenen aber höchst interessanten Gedanken, die Schnabel aus seinen Briefen entnommen und Dafoe in den Mund gelegt hat. So gesehen ergeht es dem Zuschauer ähnlich wie den Machern bei ihrem Ausstellungsbesuch, Schnabel schenkt uns zwei wunderbare Stunden, fernab von unserer Zeit in einer anderen Welt, an einem anderen Ort, lässt uns eintauchen in seinen van Gogh-Kosmos, eine meditative Erfahrung künstlerischer Transzendenz.

Dagegen hatte es natürlich der zweite Künstlerfilm im Wettbewerb schwer. Dennoch schlug sich Florian Henckel von Donnersmarcks WERK OHNE AUTOR
beachtlich. Von der internationalen Presse überwiegend begrüßt, wurde er von der deutschen Presse vielfach gescholten und ging am Ende leer aus. Auch er startet schon diesen Monat in unseren Kinos und steht nebenstehend ausführlich besprochen.
Was wir sonst noch gesehen und entdeckt haben können Sie in unserer ausführlichen Festivalbericht unter www.filmkunstkinos.de nachlesen.

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