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Ein Ausbruch

Die biograph Buchbesprechung von Thomas Laux

Es scheint zunächst auf bekanntes Terrain hinauszulaufen: Ein noch in den 50ern geborener, d.h. in der jungen Bundesrepublik aufgewachsener Mann erinnert sich an seine alles anderes als schöne Kindheit in den 60ern. Auch Filmregisseur Oskar Roehler (sein Fassbinder–Film „Enfant Terrible“ startete vor kurzem) beginnt in ähnlichen Mustern: Geschildert ist ein ländlicher Raum, strukturiert von Geboten und Verboten, es erscheinen verzagte, noch vom Krieg traumatisierte Eltern, eine übermächtige Kirche, ein diffus feindlich gesinntes Umfeld von Bauern – und bei dem betroffenen Ich–Erzähler vor allem eine Vielzahl von Entbehrungen und eine „Zeit im Überfluss“; ein tristes Sittengemälde nimmt Form an.
Diese Enge schreit förmlich nach Auflehnung, nach Wandel oder gleich nach Zerschlagung, doch Roehlers Ich–Erzähler (zweifelsohne er selbst) drückt früh schon einen Unwillen aus, überhaupt etwas zu ändern: „Ich war ein Mensch ohne Neugier“, sagt er.
So geht der Fokus zunächst auf die Väter dieser Zeit, hier im besonderen auf einen Vater, der nicht dem Klischee des gepriesenen Wirtschaftswunders entspricht, sondern von einer „seltsamen Schwermut“ ergriffen ist: „Vielleicht hielt er das irdische Dasein für eine Art Zwangsarbeit, mit dem er seine Schuld kompensierte“. Die Eltern, kleinlich und unnötig streng, predigen den Kindern nicht die Zuversicht, sondern den (Titel gebenden) Mangel, auch der Begriff der „Volksgemeinschaft“ ist ihnen noch nah, man merkt, da ist einiges aus der Nazizeit noch nicht aufgearbeitet und fristet weiter sein Unwesen.
Es ist die Zeit um 1965, der Junge ist sechs. Die Mutter, frühzeitig ergraut, wirkt hilflos, verliert sich in Selbstgesprächen. Den Kindern (wobei allerdings nicht ganz klar ist, ob der Junge Geschwister hat, des öfteren taucht ein Plural–„Wir“ auf) bleibt nichts außer der Fantasie, sie wird zu einer Droge gegen die Einsamkeit. Ratlos stehen sie vor den Selbstabschottungen der Eltern, vor dem geheimnisumwitterten Verhalten des Vaters: „Wir wussten nichts von ihm“ und „Wenn sie sich anschrien, liefen wir davon“.
Sinnigerweise erspäht der Junge den entscheidenden Lichtblick, womöglich seine Rettung aus dem Sumpf des Elternhauses, ausgerechnet in der Schule. Dabei sollen die Kinder zunächst „für ein eigenständiges Denken untauglich gemacht werden“, die Mittelschule wird von Elternseite als das Allerhöchste des Erreichbaren betrachtet, weitere Karriere ausgeschlossen. Der Junge erkennt, dass er, um nicht zu ersticken, „tief in die Mathematik, die Philosophie oder die Kunst einsteigen“ muss. Rettung naht unverhofft in Form des verschrobenen Lehrers Behrend, der die Schüler mit anspruchsvoller Kunst (Bacon, Hopper, Vermeer) und Literatur (Kafka, Th. Bernhardt, Beckett) konfrontiert und Interesse bei ihnen auslöst. Man ist natürlich ein Stück weit an den „Club der toten Dichter“ erinnert.
Das ist alles schlüssig und kompakt inszeniert, schade, dass dieser autobiografische Roman gegen Ende seine innere Contenace etwas verliert, Roehler hält es nicht für notwendig, die Entwicklungen chronologisch einzuhalten, springt stattdessen zwischen diversen Zeitabschnitten hin und her: Unversehens ist er Anfang zwanzig, schreibt selbst und will im Nachhinein erkannt haben, dass Behrend mit seinen esoterischen Anwandlungen im Grunde ein Faschist gewesen sei, das krude Urteil deckt sich nicht mit den sympathisch gestimmten Ausführungen zuvor. Und in der Ausformulierung eigener Kreativität (mit zitierten Anleihen vor allem bei Keats) bekommen seine Ausführungen etwas diffus Elitäres. Schließlich setzt die Erwähnung von Schreibblockaden, einer Paranoia, eines Selbstmordversuchs, der ganzen Sache einen all zu dramatischen Akzent auf. So gibt es hier ein paar Abstriche bei einem insgesamt gut geschriebenen Buch.

Oskar Roehler: Der Mangel. Roman. Ullstein Verlag, Berlin 2020, 167 S., 23.-€

(aus biograph Jan/Febr. 2021)

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