Im Grunde gehen diese rund 860 Briefe zwischen Albert Camus und Marie Casarès aus den 1940er und 50er–Jahren niemanden etwas an. Viel zu privat, viel zu intim erscheinen sie, und dass das alles so selbstverständlich vor einer breiten Öffentlichkeit ausgebreitet wird, hat zunächst etwas zutiefst Voyeuristisches.
Allerdings, und das gehört mit zur Wahrheit, hatte Camus' Tochter Catherine diesen Briefwechsel 2017 gezielt freigegeben, was sich womöglich aus der Idee speiste, einer an dem großem Schriftsteller interessierten Fangemeinde (und weniger der Literaturwissenschaft) noch etwas bis dahin Verborgenes an die Hand zu geben. Nach gut 1500 Seiten bleibt zumindest die Erkenntnis, dass man sich den Autor des „Fremden“ (jenen Meursault, der einem in Camus' erstem Roman so gefühllos vorkommt), nie in dieser Weise emotional, ja, liebestoll hat vorstellen können.
Camus hatte die neun Jahre jüngere Casarès bei einem Treffen mit namhaften Künstlern und Intellektuellen kennengelernt. Exakt am 6. Juni 1944 (Tag der Landung der Alliierten in der Normandie, für die frisch Verliebten scheinbar aber ein Ereignis ohne Bedeutung) werden sie ein Liebespaar. Camus ist da bereits unglücklich mit seiner Frau Francine verheiratet, sie, die zeitlebens unter schweren Depressionen litt, brachte dennoch 1945 zwei gemeinsame Kinder zur Welt, die Zwillinge Jean und Catherine, was die Frage nach sich zieht: War Camus, der überzeugte Moralist, ein Mann der Doppelmoral? Es ist hinlänglich bekannt, dass Camus immer andere Frauen nebenher hatte, doch als die Beziehung zu Casarès wirklich Fahrt aufnimmt, gibt es nur noch sie für ihn, in aller Ausschließlichkeit.
Jahrelang hielt er sich in Südfrankreich auf, zeitlebens war der Autor der „Pest“ lungenkrank, viele Arztbesuche stehen da zu Buche, was eine deutliche Belastung darstellte. Und die Liebe der beiden, damit diese Korrespondenz, wurde nach Francines Rückkehr nach Paris auch für Jahre unterbrochen – Casarès wollte nicht fünftes Rad am Wagen sein und trennte sich von ihm. Dass wenige Jahre später alles wieder von neuem aufflammte, und das umso heftiger, bedingungsloser, belegt die grundsätzliche Echtheit dieser Beziehung. Es mag für einen heutigen (jüngeren) Leser, der diese Art analogen Austauschs kaum noch nachvollziehen dürfte, unfassbar sein, wie zwei Erwachsene gleich mehrfach am Tag zur Feder (!) greifen, um dem jeweils anderen die kleinsten Regungen, Gefühle, auch Zweifel mitzuteilen – um dann schnell zur Post zu laufen und auf Antwort zu warten. Das alles umschreibt ein umfassendes Entrücktsein – Camus spricht einmal von einer „Herzvergiftung“ –, wobei die Schilderungen in ihrer ausgeprägten sprachlichen Redundanz oft nicht frei von Kitsch sind, zumal, wenn sich die eingestreute Poesie in ständigen Wiederholungen zu erschöpfen scheint, gerade bei Camus.
Im Vergleich ist Casarès nämlich die insgesamt bessere (Brief–)Schreiberin, ihre Darstellungen von Tagesabläufen und aufzehrenden Theaterauftritten wirken lebendiger. Bisweilen kann sie auch ironisch sein, sogar eine Spur hämisch, derweil Camus vergleichsweise grüblerisch, humorlos oder zerknirscht in seiner südfranzösischen Bleibe hockt. Mit der Zeit neigen beide (Camus deutlicher) zu Melancholie und Depression, die Sorge um die Gesundheit des anderen bestimmt diese Briefe immer mehr, jeder drängt den anderen, tunlichst auf sich acht zu geben.
Casarès fragte in einem Brief im Juni 1959, ein halbes Jahr vor Camus Unfalltod: „Kann der Tod selbst uns trennen?“ Nur ein Jahr nach Camus' Tod ging sie mit einem Arbeitskollegen eine Beziehung, später auch eine langjährige Ehe ein. Auch das bleibt bemerkenswert.
Albert Camus / Maria Casarès: Schreib ohne Furcht und viel. Eine Liebesgeschichte in Briefen 1944–1959. Aus dem Franz. von Claudia Steinitz et.al., Rowohlt Verlag, Hamburg 2021, 1565 S., 50.-€
aus biograph 09/2021
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