Der vor fünf Jahren verstorbene Wilhelm Genazino war ein begnadeter Beobachter des Randständigen oder gleich gänzlich Abseitigen. All seine Romane lieferten dem Leser ein bemerkenswertes Arsenal an Schrägheiten, alltägliche Misere und gemeines Scheitern inklusive. Aus dem Nachlass liegt nun ein aus vielen verschiedenen Ordnern zusammengestelltes Konvolut von Aufzeichnungen vor, in dem sich alle Themen wiederfinden, die auch sein Werk bestimmten – wie das der Scham, ein Phänomen, das er in vielen Facetten aufzufächern vermochte. Gewiss wirkt hier einiges unfertig, was dem provisorischen Charakter dieser Aufzeichnungen geschuldet ist, oftmals sind es kurze, wohl nicht unbedingt für die Öffentlichkeit gedachte Notate, Genazinos Ton aber, die Ansichten eines gedanklich wie geografisch beflissenen Flaneurs (das Wort selbst mochte er nicht, er zog den Begriff „Streuner“ vor), ist hier ebenso gut wiedererkennbar wie in seiner Prosa. Eine derart durchdeklinierte Unvollkommenheit hat freilich ihren Reiz, man gewinnt bisweilen den Eindruck, da ringt jemand mit den Formulierungen und kommt eher unerwartet zu (poetischen) Lösungen.
Genazino war ein durch und durch analog aufgestellter Mann, ein Schriftsteller „alter Schule“, er wehrte sich zeitlebens gegen Mails und Internet. Dass seinem Werk insgesamt etwas Grillenhaftes, wo nicht Schrulliges anhaftet, damit kam er gut zurecht, konnte damit sogar kokettieren, sein selbst gewählter Außerseiterstatus unterstrich eher, dass er sich abseits einer Welt definierte, die er für sein Schreiben zwar notwendig brauchte – in der Hinsicht war er gewiss kein Proust –, die er innerlich aber ablehnte, seine abschätzigen Beobachtungen aus dem Supermarkt belegen das. Er zeigt in unnachahmlicher Weise ein Gespür für die urkomischen Abgründe des Lebens, in Szenen, die seine Arbeit kreativ unterfüttern sollten.
Vieles geht auch auf spontane Einfälle oder zufällige Beobachtungen zurück, den Skizzen haftet manchmal auch eine gewisse Scheintiefe an („Mehrmals am Tag war sein Leben ohne Sinn“), und Originalität wirkt da und dort auch etwas bemüht. Ein einziger Satz Genazinos verrät indes das gesamte Programm: „Ich suchte wie immer nach den kleinen Fehlern der Wirklichkeit, von denen ich mir ein wenig Unterhaltung versprach.“
Zu seinem Repertoire, das sich zuverlässig auch in seinen Romanen widerspiegelt, gehört die Zuschaustellung bestimmter Wortkreationen („Berufe: Leidbeobachter; Zeitpunktforscher; Sofortanalytiker; Schuhtester“). Letztes gab es wirklich: Als der legendäre Schuhkonzern Bata 1981, kein Scherz, einen „Schuhtester“ suchte – die Anzeige ist im Buch mit abgebildet –, war Genazino begeistert, die Wirklichkeit hatte ihm eine Gratisidee geliefert (und er bewarb sich gleich für diesen Job).
Mit zunehmenden Alter, ab etwa sechzig, konkretisieren sich bestimmte Ängste, etwa die Angst vor Vereinsamung („Ich möchte nicht so empfindlich werden, daß ich es unter anderen Menschen nicht mehr aushalten mag. Dabei bin ich schon weit fortgeschritten“), er sinniert zusehends über „Fluchtwege“, beschreibt seine Scheu vor Massen, favorisiert ein „Beiseitestehen“, vertieft sich in die Lektüre jener Schriftsteller, deren Zurückgezogenheit oder Einzelgängerstatus ihn stets beeindrucken konnte (Kafka, Beckett, R. Walser). Die äußerliche Welt wird ihm zusehends fremd. Seine Abwehrhaltung gegen die Moderne, die in seinen späten Romanen verdeckt und eher in der „Ratlosigkeit als eine Art Lebenskunst“ (in: „Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze“, sein letzter Roman von 2018) beschrieben ist, hat das Witzig–Spielerische ein Stück weit eingebüßt; unter den existenziellen Ängsten ist die Angst vor dem Ende des Schreibens diejenige, die sich nunmehr am deutlichsten manifestiert.
Wilhelm Genazino: Der Traum des Beobachters. Aufzeichnungen 1972–2018. Hanser Verlag, München 2023, 464 S., 34.-€
aus biograph 11/2023
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