Vor seinem berühmten, zwölfbändigen Zyklus „Ein Tanz zur Musik der Zeit“ debütierte Anthony Powell 1931 mit dem Roman „Afternoon Men“, der jetzt unter dem Titel „Die Ziellosen“ erstmals auf Deutsch zu lesen ist. Wenn man den erwähnten Zyklus oder nur Teile daraus kennt, wird man auf thematische Ähnlichkeiten stoßen, vor allem aber Powells Schreibstil sofort wiedererkennen. Im vorliegenden Fall präsentiert er eine Clique aus bildenden Künstlern (vorwiegend Malern) um die Dreißig in ihren jeweiligen Verhaltensmustern bzw. in ihrer allumfassenden Selbstverliebtheit. Powell hat einen deutlichen Spaß daran, ihre profanen Anmaßungen süffisant offenzulegen. Jeder macht mit, wenn es darum geht, den nächsten Kick zu erleben, die nächste Party, den nächsten Club aufzusuchen. Derart oberflächliche Vergnügungen bilden das nie hinterfragte Nonplusultra, und selbstredend ist immer viel Alkohol mit im Spiel. Der ist freilich auch verantwortlich für allerlei Aussetzer, Ohnmachtsanfälle und Krisen sonstiger Art.
Deutlich gestaltet sich der Tagesablauf nach ein und demselben Muster, die ganze vorgeschobene Kunstbeflissenheit, die in dem Aufsuchen von Galerien, Museen etc. sich manifestiert, bildet eigentlich nur einen Vorwand zu weiteren, meist wechselseitig ausgesprochenen Einladungen, Exzesse sind da fest mit eingeplant (was stark an die vielen ähnlich gelagerten, hedonistischen Szenen in den Romanen F. Scott Fitzgeralds erinnert).
Powell seziert genüsslich die vermeintliche Lebensphilosophie dieser elitären Blase, die, bis auf eine gewisse Harriet, die ihre Reize schamlos ausprobiert, fast nur aus Männern besteht; er zeigt sie in ihrem frivolen Geschwätz und unterstreicht das formal anhand einer fein ziselierten Dialogregie, die von keinem außenstehenden Erzähler kommentiert zu werden braucht, so sehr entblößt sich alles von selbst. Aber Powell ist eben ein feiner Beobachter dieser galoppierenden Dekadenz, die sich in den Herzen oder Köpfen dieser Gruppe schon lange eingenistet hat.
Ob hier, wie es den Anschein hat, ein typisches Lebensgefühl der 1920er–Jahre abgebildet ist, lässt sich gar nicht so genau sagen, das Ganze wirkt beinahe zeitlos. Auffallend ist der kollektive Gestus einer komplett unpolitischen, unengagierten, letztlich unsozialen und planlosen Truppe, denen auch persönliche Schicksale bzw. Tragödien im eigenen Umfeld nicht zu Herzen zu gehen vermögen: Als einer aus der Gruppe, ein gewisser Pringle (der offensichtlich unter Depressionen leidet, sich mit erwähnter Harriet verlobt wähnt und unversehens miterleben muss, wie sie mit anderen Männern herumpoussiert) Selbstmord begehen will, seine Kleider am Strand zurücklässt und ins offene Meer hinausschwimmt, wird zunächst lang und breit darüber diskutiert, ob er sich nicht nur einen Scherz erlaubt habe, alle bleiben auffallend gelassen, unternehmen nichts. Auch ein gefundener Abschiedsbrief von ihm bringt das Weltbild der Gruppe nicht ins Wanken. Wenn es mit der Durchsetzung des Selbstmords Pringles schlussendlich nichts auf sich haben wird – er wird von einem Fischerboot aufgegriffen –, bedeutet es jedoch, dass diese Truppe sich tunlichst nicht verunsichern lassen will. Harriet etwa fragt, als sie den geretteten Pringle vor sich hat, der zu große, von einem Bootsmann geliehene Klamotten anhat, ob er in diesem Outfit etwa zu einer Party unterwegs sei (!), und dann entwickelt sich noch eine länger andauernde Diskussion, wie viel Trinkgeld man denn dem Lebensretter Pringles geben soll. Pringles Schicksal selbst interessiert zu diesem Zeitpunkt kein Schwein mehr.
Powell schildert das ebenso stringent, erbarmungslos wie amüsant, eine bemerkenswerte Mischung. Manchmal, das gehört dazu, bleibt einem das Lachen im Hals stecken.
Anthony Powell: Die Ziellosen. Roman. Aus dem Englischen von Heinz Feldmann. Elfenbein Verlag, Berlin 2021, 237 S., 22.-€
aus biograph Juli 2021
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