Alle, die heute über 60 sind, haben in den 1970er–Jahren ihre Sozialisation erfahren, wozu zwangsläufig gehört, dass man, wenn man nicht gerade auf den Ohren saß, die damalige Pop–Musik in sich aufsog. Die wesentliche Frage gipfelte meist darin, zu welchem Lager man sich zugehörig fühlte, in den 60ern gestaltete sich das noch vergleichsweise einfach (Stichwort: Beatles versus Stones), doch bereits in den 70ern wurde die Lage musikalisch und damit ideologisch unübersichtlicher, mit einem Antagonismus à la Abba versus Deep Purple kam man nicht mehr weiter; die Angebote waren um etliches vielfältiger geworden und Schnittmengen bei den Extremen keine Ausnahme.
Das weiß natürlich auch der mittlerweile 62–jährige Andreas Heidtmann. Er hat sich nach seinem Vorgängerroman („Wie wir uns lange Zeit nicht küssten…“) erneut in diese Zeit versenkt, mit denselben Protagonisten und einer sehr ähnlichen Thematik. Dass diese Epoche ihm eine Herzensangelegenheit ist, erkennt man sogleich an einer auffälligen Detailverliebtheit, insbesondere bei Songtiteln, Bandnamen oder Fragen des damals relevanten Outfits.
Mit fein austariertem Sinn fürs Zeitkolorit fokussiert er sich auf die psychologisch heikle Situation des Ich–Erzählers Ben Schneider, der sich in den mitunter schwer dechiffrierbaren Situationen seiner Umgebung zurechtfinden muss. Es geht dabei immer um Elementares – Erste Liebe, Schule, Elternhaus –, und überall wuchern die Zumutungen. Bens Mutter erscheint schwer depressiv, der Vater glänzt durch Abwesenheit, die Lehrer sind mehrheitlich Unterdrücker oder Verhinderer; nur mit seiner peer–group gibt es eine Art Gemeinsinn, vorzugsweise beim Feiern und Saufen. Musik ist überlebenswichtig und Jimi Hendrix Bens Held. Als bedeutsam erweist sich der Ort des Geschehens, denn wir befinden uns in Lippfeld, irgendwo hinter Gladbeck, einem spießigen Provinznest, das sich als ein umfassendes Hindernis der Selbstverwirklichung erweist. Die Jugendlichen wollen der geistigen Enge entfliehen. Da dies altersbedingt kaum gelingen kann, ist Initiativgeist gefragt, und Ben, der klassischen Klavierunterricht erfahren hat, bedient bald die Keyboards in einer fünfköpfigen Schülerband, den „Crazy Hearts“. Hier kommt zusammen, was zusammen gehört bzw. vorher unterdrückt war.
Ben hat sich zu Anfang noch nicht von seiner ersten Liebe, Susanna, gelöst, sie ist jetzt mit seinem Rivalen Kai verbandelt und der macht gleich zu Anfang einen auf dicke Hose. Ben landet nach einem Schlag ins Gesicht im Krankenhaus. Aber ohnehin heißt die neue Flamme Rebecca, auch sie kennt man bereits aus Heidtmanns Vorgängerroman. Beide sind talentierte Klavierspieler, Rebecca aber wird mit ihren Eltern nach Berlin ziehen, und Ben muss sich entscheiden, wie wichtig sie ihm ist. Kurz entschlossen reist er zu ihr. Der Berlinaufenthalt wird bald zum Inbegriff umgreifender Emanzipation. Zwar ist er zu Anfang noch mit alten Zwängen konfrontiert, und im Haus von Rebeccas Eltern, beim verkrampften Abendessen, werden rasch die sozialen Unterschiede aufgezeigt–: studiertes Großbürgertum versus Arbeiterhaushalt (aus dem Ben stammt). Ben überschreitet seine sozialen Vorbedingungen aber, entdeckt Chopin, Rebeccas Favoriten, und legt über ein paar Umwege alte Denkmuster ab.
Ein klassischer Entwicklungsroman also. Dabei nimmt Heidtmann seinen Helden in seinen unverschuldeten Misslagen durchweg ernst. Die 70er–Jahre erscheinen nicht hochgepäppelt im nostalgischen Farbenglanz, sondern als zähe Selbstfindungsphase. Bens Irren und Wirren verdichten sich in einer Sprache, die zwischen äußerer Erlebniswelt und Selbstreflexion authentisch zu oszillieren weiß. Und selbst wenn einem das alles nicht wirklich neu vorkommt, liest man das Buch mit Gewinn.
Andreas Heidtmann: Plötzlich waren wir sterblich. Roman. Faber & Faber Verlag, Leipzig 2023, 275 S., 24.-€
aus biograph 08/2023
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