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Heftige Verwerfungen

Die biograph Buchbesprechung von Thomas Laux

Der vorliegende Fall sorgte vor 25 Jahren für viel Aufregung in Frankreich. Ein Mann namens Jean–Claude Romand ermordet seine Frau Florence, seine beiden Kinder, seine Eltern, er zündet das gemeinsame Haus an, um die Morde zu vertuschen. Später will er seine Geliebte Corinne und sich selbst umbringen, der Versuch ist halbherzig und scheitert. Natürlich wird der Mann gefasst, aber was sich später dann in den Vernehmungen und in im Gerichtsaal in puncto Abgründe auftut, ist ungeheuerlich: Ein Leben, das komplett und über etliche Jahre durch Täuschung und Lüge definiert war, ein ausgeklügeltes und manisches System der Vertuschung, das selbst im Gerichtssaal noch eine Zeitlang aufrecht erhalten werden konnte.
Romand war nicht, wie er vorgab, Arzt, er war kein Forscher an der WHO in Genf, nein, alles erfunden, nichts in seinem Lebenslauf entspricht der Wahrheit. Dann ist da der Freundeskreis, der sich fassungslos, getäuscht zeigt. Man verzeichnet ein Versagen der gesamten Entourage: Warum wurden bei den fabelhaft inszenierten Erfolgsgeschichten des Doktor Romand nicht ein einziges Mal nachgefragt? Die Freunde ließen sich nur zu gerne täuschen, und Carrère versteht das als Kritik: Von den Erfolgsgeschichten, auch den vermeintlichen, lassen wir uns gern betören, von Krisen und Abgründen wollen wir nichts hören. Und Romand nutzte das Mitleid seiner Freunde aus: Corinne, seine Geliebte, die er später töten will, bringt er um eine hohe Geldsumme, sie glaubt ihm, als er sagt, es sei für seine Krebsbehandlung.
Die Fassade einer komplett durchorganisierten Scheinnormalität funktioniert auch deshalb so erstaunlich gut, weil Romands soziale Reflexe intakt sind, er z.B. Geld spendet. Erst nach dem Brand ist er überführt. Hybris bleibt ein fester Bestandteil seines Charakters: Sein Überleben begreift er nach seiner Verurteilung als Aufgabe, im Gefängnis zu sühnen, da er „zum Leben verurteilt“ sei. Sein Schlussplädoyer im Gerichtssaal gerät zu einem einzigen pseudo–moralischen Geschwurbel, er will sein Leiden fortan „dem Gedenken an seine Familie weihen“.
Unfassbar, schwer zu glauben das alles, aber Carrère, der allen Spuren akribisch nachgeht, zeigt sich auch beeindruckt von diesem ausgeklügelten Wahnsystem, Romands Geschichte fasziniert ihn, motiviert ihn. Er umgeht dabei lange die für Außenstehende entscheidende Frage, nämlich die nach dem Motiv. Nur allmählich erschließt sich, dass das ganze Lügengebäude einen massiven Druck erzeugt hat, dem der spätere Mörder nicht mehr gewachsen ist. Carrère sagt es nicht explizit, aber es hat den Anschein, als ob er in den vielen Tötungsdelikten auch einen Schlusspunkt, eine Art Katharsis erspäht, ein Sichbefreien von all dem, was als psychologische Last nicht mehr zu kompensieren war. Gewiss will er damit nichts entschuldigen. Nicht ohne Pikanterie ist allerdings, dass Carrère dies mit einem religiösem Verweis versieht: an einer Stelle spricht er tatsächlich vom „Satan“, dem „Widersacher“ schlechthin, einer höheren Macht, die hinter den Untaten stehe. Auch das befremdet. Erklärend lässt sich allenfalls anfügen, dass Carrère seit langem eine religiöse Orientierung pflegt; in seinen späteren Werken (das vorliegende ist im Original von 1999), allen voran „Das Reich Gottes“ von 2016, macht er aus einem tief verwurzeltem Katholizismus keinen Hehl.
Am Ende sieht aber auch der lange fasziniert wirkende Carrère ein, dass sich sein Bild von Romand ändern muss. Da funktioniert dann auch kein Mysterium mehr, der Mörder Romand erscheint ihm vielmehr als eine „armselige Mischung aus Verblendung, Not und Feigheit“. Erst spät zieht Carrère aus dem Fall die einzig gültigen Schlüsse.

Emmanuel Carrère: Der Widersacher. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2018, 195 S., 22.- €

aus biograph 01/2019

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