Mit beeindruckender Phantasie und formalen Gestaltungswillen führt Ralph Rothmann sein erzählerisches Werk fort, mit Situationen, die unvergleichlich sind, mit Figuren, die einem nachhaltig im Gedächtnis bleiben. Elf neue Erzählungen sind es geworden, denen allesamt eine unruhige, mitunter kritische Atmosphäre zu eigen ist. Allgemein gesprochen ist Rothmanns Werk, auch wenn der Begriff etwas anachronistisch erscheint, einem spezifischen Maße existenzialistisch, es geht um einsame Entscheidungen, deren Zustandekommen und Konsequenzen zunächst nicht abzusehen sind. Rothmann ist ein konsequenter Beobachter des Abseitigen, in Sprache und Stil einfach unvergleichlich.
Besonders verstörend und zynisch (und dabei komplett auf Fakten beruhend) ist die Titelgeschichte. Das titelgebende Hotel ist ein Haus voller Delinquenten in der Folge der Moskauer Prozesse der 1930er–Jahre. Im dortigen Keller werden sie sukzessive liquidiert, zuständig dafür ist der zynische Ich–Erzähler und Leiter dieser Abteilung, Wassili Blochin, der damit prahlt, bereits hunderte, wenn nicht tausende Männer umgebracht zu haben. Einer der Delinquenten, mit denen er sich vor der Exekution noch ein paar Takte lang unterhält, ist der jüdische Schriftsteller Isaak Babel, der tatsächlich 1940 dort erschossen wurde. Diffus beeindruckt von einem Buch Babels, bittet Blochin ihn, ihm vor seiner Erschießung doch bitteschön noch eine persönliche Widmung hineinzuschreiben. Aber ach, seine rechte Hand ist ja leider zertrümmert, das geht also nicht, wie wäre es mit einem Daumenabdruck? Tatsächlich erfolgt dieser, wenn auch unfreiwillig. Kurz danach wird Babel erschossen. Anfang der 1950er–Jahre wird er von Seiten der UDSSR übrigens rehabilitiert, selbst Blochin behauptet dann, sich darüber zu freuen, doch wie tief diese Freude geht, erkennt man daran, dass er versucht, das Buch mit dem Daumenabdruck auf dem Flohmarkt zu verhökern; er ist überrascht, dass niemand ihm die Echtheit des Abdrucks glaubt…
In den anderen Geschichten herrscht ein eher ruhiges Drumherum, das Ruhrgebiet, Rothmanns einstige Heimat, bildet wiederholt den atmosphärischen Hintergrund. Der ganze Landstrich mit seinen Zechen und Mienen zeigt sich in den 50er und 60er–Jahren mit seinen fast klischeehaften Einschränkungen, dem grauen, reduzierten Leben, mit der aufdringlichen, dabei hilf– und empathielosen Autorität von Eltern, die glauben, ihre Macht durch Schläge zeigen zu müssen (in: „Auch das geht vorbei“). Rothmann belässt es freilich nicht bei stimmig inszeniertem Lokalkolorit. Hier wie auch in der Erzählung „Der Dicke Schmitt“ zeigen sich gegen den stilisierten Fatalismus zögerliche Versuche der Emanzipation, ein Sichabsetzen von Obrigkeitsstrukturen, eine erste Profilierung und das zaghafte Herausbilden von Persönlichkeit.
Aber Rothmann beeindruckt auch immer wieder durch seine sprachliche Herangehensweise, etwa in „Admiral Frost“, wo es um ein Gestüt und einen Hengst diesen Namens geht. Unversehens wird man in eine unwirklich erscheinende Welt gezogen, eine, die mit ihrer eigenen Nomenklatur und mit Begriffen operiert, die dem Nichteingeweihten wie aus einer anderen Welt vorkommen mögen, mit Abläufen, die man so noch nie gelesen hat, plastisch und detailliert.
Die kürzeste Geschichte, „Ein leises Ziehen in der Herzgegend“, beschreibt mit leichter Ironie die Diskrepanz zwischen gelebtem und erinnertem Leben: Der Maler Jahnson ist im Schleswig–Holstein unterwegs und inspiziert Orte seiner Kindheit, bis er merkt, dass die vermeintlich wiedererkannten Stätten ihm eine falsche Erinnerung vermitteln – er ist unterwegs im falschen Ort, „um wiederzuerkennen, was er nie gesehen hatte“. Zur Selbsttäuschung reicht es, einmal falsch abgebogen zu sein.
Ralf Rothmann: Hotel der Schlaflosen. Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 22.-€
aus biograph 12/20
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