Der schottische Romancier John Burnside (*1955) steht für einen abgeklärten, im Grunde einfachen Erzählstil, der sich erst mit Verzögerung als hintergründig herausstellt. Zum ersten Mal gibt es Erzählungen von ihm auf Deutsch. Sie alle sind mit jenem notwendigen Leerstellenpotenzial ausgestattet, das über die Lektüre hinaus ein Weiterdenken oder –erzählen nahelegt, die zwölf Storys hallen nach wie bester Burgunder. Zumeist geht es um existenzielle Zäsuren, die ihre Wurzeln zwar in dem geballten Einerlei des Alltags haben, deren Konsequenzen jedoch nicht absehbar sind.
Gleich zu Anfang, in „Die Kälte draußen“, begegnen wir Bill, der soeben die Diagnose Krebs erhalten hat. Mehr erfährt man nicht, es verwundert eher, dass Bill erstaunlich gelassen wirkt, dass ihn keine Panik erfasst hat, seine Gedanken wirken losgelöst, ja gelassen. Als er abends im Auto unterwegs ist, greift er mitten im Wald einen jungen Mann auf, der, wie einer Parallelwelt entstiegen, in zerrissenen Frauenkleidern und mit zerlaufenem Make–up sich in den Wagen hievt; offenbar ist er sogar verletzt. Bill vermeidet jegliche Anspielung auf dieses Outfit, ist froh, überhaupt jemanden an seiner Seite zu haben, jetzt, kurz vor einem Weihnachten, das vielleicht sein letztes sein könnte: „Ich wollte weiter unterwegs sein, an einem Winterabend auf der Straße ohne Ziel, wollte Zeit mit jemanden verbringen, den ich nie wiedersehen würde.“ Es entwickelt sich ein knappes Gespräch, das von rudimentärer Empathie bestimmt ist, so als wüsste auch dieser obskure Mitfahrer um die Abgründe seines Gegenübers. Bill fühlt sich, wie es heißt, „beschenkt“, über einen zufallsbedingten Umweg sensibilisiert er sich für alles, was ihm plötzlich prekär und vergänglich erscheint.
Das ist sehr fein erzählt, Burnsides Geschichten zielen in psychologische Tiefen, deuten Vieles nur an. Einigen Erzählungen ist sogar eine gewisse Komik eingeschrieben. In der Geschichte „Schlampenflusen“ erleben wir Janice und Rob, ein Ehepaar, das schon des längeren in rigiden Verhaltensmustern erstarrt ist. Janice bekommt auf einmal Zahnschmerzen, ein Umstand, den sie als ungerecht empfindet, da sie sich, im Gegensatz zu ihrem Mann, stets um Mundhygiene gekümmert hat. Rob zeigt sich plötzlich „hilfsbereit“ – schnappt sich seinen Werkzeugkasten, packt eine Zange aus und werkelt los. Statt einer Narkose verabreicht er ihr Whisky, und die unterwürfige Janice lässt alles scheinbar stoisch über sich ergehen. „Am Ende war überall Blut, auf ihm, auf ihrem Gesicht (…) und vom Schmerz und vom Whisky wurde Janice wieder übel.“ Rob verdrückt sich nach vollzogener Extraktion in seine Stammkneipe, lässt Janice in ihrem Elend zurück. Sie beginnt über die Veränderungen zu sinnieren, die bei Bob, der ihr schon länger fremd geworden ist, stattgefunden haben. Gefangen in ihrem Schlamassel kommt ihr sogar ein Suizid in den Sinn, doch abgesehen davon, dass sie nicht genug Schlaftabletten im Haus hat, weiß sie, dass sie sich am Ende doch wieder fügen wird: Beinhartes Schicksal, das sich hier in Form ewiger Wiederholung manifestiert.
Wegen ihrer betörenden Beiläufigkeit könnte man über einige Burnside–Sätze glatt hinweglesen. In der Erzählung „Fügung“ heißt es an einer Stelle: „Hier hat sich im Laufe der Jahre nur wenig getan, und doch ist alles anders geworden.“ Was sich auf eine konkrete Landschaft bezieht, die der Erzähler in Augenschein nimmt, gilt bei Burnside insbesondere für die kaum messbare Erosion, die in den beschriebenen zwischenmenschlichen Beziehungen bereits vor langem stattgefunden hat und sich nun ebenso plötzlich wie lautlos zu erkennen gibt. Burnside zeigt uns diese winzige tektonische Verschiebung ebenso subtil wie gnadenlos.
John Burnside: So etwas wie Glück. Geschichten über die Liebe. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Penguin Verlag, München 2022, 252 S., 24.-€
aus biograph 01/2023
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