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Ulrich Hensel
Porträtfoto: Achim Kukulies, Düsseldorf

Ulrich Hensel

Vorübergehend für die Ewigkeit

Die Ausstellung findet in Wolfsburg statt, dort ist sie noch bis November zu sehen. Ausstellungen mit den fotografischen Bildern von Ulrich Hensel sind seltene Gelegenheiten meist an vorzüglichen Orten, etwa in der damaligen Galerie von Thomas Taubert in Düsseldorf, bei Sprüth Magers in München, im Lehmbruck Museum Duisburg, bei Gruppenausstellungen in der Akademiegalerie und der Kunsthalle in Düsseldorf und nun also im Kunstmuseum Wolfsburg. Die Bilder erfordern in ihrer Größe den Wechsel der Ansicht von Nähe und Abstand, dazu entstehen kaum mehr als zwei, drei oder vier im Jahr. Und die sind erstaunlich. Hensel lässt Wände auf Baustellen fotografieren: Zustände von altem Mauerwerk oder additiv geschichtete Wandflächen von Neubauten, bevor sie fertiggestellt und verschalt werden, also offene bauliche Situationen, teils noch mit den Baumaterialien, die wie zufällig wirken, aber im Entstehungsprozess der Architektur ihren Sinn und ihre Ordnung besitzen. Erfasst sind diese Ansichten im Gegenüber in bildfüllender, nach allen Seiten präzise zentrierter Aufnahme. Unten bleibt die horizontale Kante sichtbar, die sich, teils in der Baugrube, nach vorne fortsetzt. Sie definiert den Bildraum und die aufragenden Flächen im Mittelgrund, und doch wirkt die Darstellung abstrakt. Die Künstlichkeit der Farben, das mitunter absurd Gedrängte der einzelnen Partien und vielleicht ja die schiere Größe können zur Annahme führen, hier eigentlich winzige Modelle vor sich zu haben. Ist das alles wahr oder ist es in Zeiten, in denen mit digitalen Mitteln alles möglich ist, nicht eine Simulation? Fotografien sind es deshalb, weil ihr Motivfundus die Realität und die Rücknahme von Realität ist. Wie bei 3-D-Effekten klappt der Raum mitunter nach vorne, so dass man inmitten der Baustellen zu stehen scheint. Zum Eindruck des Virtuellen tragen das Geröll und Gestein im Vordergrund und die bunten oder gebrochenen Farben der Baumaterialien bei. In was für einer Welt leben wir eigentlich? Sind dies entfremdete Reste gewesener Zeiten, Spuren des künftig Archaischen, dessen Archä­ologie erst noch kommen wird? Hensel zeigt Situationen im Übergang von Vergangenheit und Zukunft: Er dokumentiert ihre Authentizität. Alles ist genau so wie es zu sehen ist, und wenn er später doch etwas bei den Fotografien verändert, dann betrifft es das Justieren der Helligkeit, der Farben, die Kanten am Rand.

Ulrich Hensel lässt sich Zeit für das Finden. In Artikeln wird seine Aktivität mitunter als „Flanieren“ bezeichnet, aber das trifft es kaum: Hensel berichtet, dass er immer mehrere Baustellen und deren Fortschritt im Blick behält und diese wieder und wieder gezielt aufsucht – zu Fuß oder mit dem Auto –, die Rohbauten beobachtet und den späteren Gebrauch der Gebäude bedenkt. Dass er registriert, wenn Veränderungen stattfinden, etwa schon wie die Bauarbeiter Zahlen auf die Wandstücke und deren Surrogate sprayen als Anweisungen, die schon bald durch andere ersetzt werden. Dass plötzlich etwas da ist, das für ihn zum Bild führt. Der Blick des Be­­trachters bleibt an den Wänden hängen, weiter kommt er meistens nicht. Und dann ist es möglich, die konstruktiv ge­­ordneten Ausschnitte nicht als Fassaden (und damit Rekurs auf Architektur) oder installative Ensembles (und damit Skulptur), sondern als Flächen (und damit Bild, aufgenommen mit den Mitteln der Fotografie) zu sehen. Bei seinen Aufnahmen interessiert ihn das Verhältnis der Teile zueinander; dazu zeichnet ihn ein besonderes Farbgefühl aus.

Ulrich Hensel wurde 1946 in Düsseldorf geboren. Er hat Psychologie an der Universität Köln studiert, bei Wilhelm Salder; ein weiterer Professor dort ist Friedrich Wilhelm Heubach, der später einen Lehrstuhl an der Kunstakademie Düsseldorf innehat. Hensel wendet sich der Wahrnehmungs­psychologie zu, anhand von Seminaren etwa zum Film und zur Kunst. Während des Studiums lebt er in Düsseldorf, wo er sich die Wohnung mit einem Studenten der Fotoklasse der Kunstakademie teilt. Er selbst fotografiert auf Reisen in Ägypten und Afghanistan landschaftliche Szenen; heute spricht er von „Geo-Fotografie“. Zwischen 1981 und 1996 hält er sich insgesamt 16 mal in Indien auf, und bei den letzten dieser Reisen fotografiert er Ausschnitte von Fassaden mit vorgefundenen Zeichen sowie die riesigen Dorfaltäre aus Keramik, die sich im Außenraum befinden.

Erst 1991 beginnt er mit der Fotografie, wie er sie heute betreibt, sogar schon im riesigen, auf die Originalgröße ausgerichteten Format. Mit dem Hinweis, dass die wesentlichen, auch heute gültigen Aspekte da bereits vorgelegen hätten, stellt er für sich eine Werkgenese in Frage. Allerdings finden sich einzelne Motive und Sichtweisen, denen er über längere Zeit nachgeht. Zunächst ist da das Rohe, Brachiale, das noch direkt auf das Sujet Baustelle weist und fast wie eine offene Wunde wirkt. Anschließend beruhigt sich die Szenerie, homogene Platten oder Verputz legen sich vor das Disparate. Zunehmend bezieht Ulrich Hensel große Flächen in künstlichen Farben ein, in leuchtendem Blau, pastellfarbenem Rosa oder lichtem Lindgrün, mit dem das Styrodur getränkt scheint. Eine Zeitlang wendet er sich vertikalen Kerben und Rasterun­gen zu, etwa Armierungseisen im Vordergrund. Sodann fokussiert er Wandkonstellationen aus verschiedenfarbigen Flä­chen, die sich horizontal und vertikal zueinander befinden. In den letzten Jahren zeigen seine fotografischen Bilder große, dabei weitgehend leere Flächen, die nun den Wänden eine surreale Atmosphäre verleihen und sie von der Situation des Bauens entrücken.

Hensel transponiert Vorübergehendes in eine Zeitlosigkeit. Anders als beim tagtäglichen schnellen Vorbeilaufen, bei dem die Baustellen mit der Konfrontation von Lärm und Schmutz verbunden und sowieso abgesperrt sind, werden jetzt ihre technischen Details sichtbar, die doch wesentliches über unsere Zivilisation und wie wir uns mit dieser einrichten, mitteilen. Implizit zählt er Grundlagen für eine Soziologie unseres Daseins im Heute auf, das sich freilich noch analog, hand- und dingfest ereignet. Und Hensel mystifiziert, indem er entmystifiziert. Zu Recht verweist Carl Friedrich Schröer auf eiskellerberg.tv auf die „Poesie“ seiner Bilder in einer „weithin entzauberte(n) Welt im Namen der Rationalität“.

Und dann möchte Ulrich Hensel wissen, woran man bei den einzelnen Bildern denkt, was spontan dazu einfällt. Er selbst hält die stereotypen Hinweise auf das „Malerische“ und die Malerei in seinen Aufnahmen für überbewertet (Twombly oder Rothko oder europäische Farbfeldmalei). Abseits davon lässt sich – in Bezug auf sein Bild „Leuchtenberger Kirchweg“ und dessen vertikale und horizontale Farbstreifen – an die konstruktiv abstrakte Malerei von Richard Diebenkorn denken. Vielleicht wäre auch die Untersuchung von Behausung und Substanz, die zur Einrichtung des Menschen dient, zu erwähnen, also: Gordon Matta-Clark. Dann wie­­­der erinnert eine durch Gitter halb verstellte Öffnung in einem Bildzentrum an Darstellungen der Auferstehung Christi in der Renaissance. Oder eine horizontale, schier endlose, lediglich regelmäßig getaktete Fläche in technoidem Silber scheint eine futuristische Welt zu symbolisieren, die sich mehr und mehr dem Menschen entzieht – wenn mehrere Deutungen möglich sind, sagt Ulrich Hensel, dann ist es gut.

Ulrich Hensel Zwischenwelten
bis 8. November im Kunstmuseum Wolfsburg
Dienstag-Sonntag 11-18 h

TH

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