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Das kleine Leben verteidigen

Die biograph Buchbesprechung von Thomas Laux

Es sind die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs. Die russische Armee steht an der Oder, die dreiköpfige Familie Stein zieht vom unmittelbar bedrohten Berlin in einen Vorort der Hauptstadt. Der hier erzählende Vater ist bereits Ende fünfzig, mit seiner Frau Frederike und der Tochter Maximiliane ziehen sie in ein Haus, das sie, zumindest übergangsweise – so lange die rechtmäßigen Besitzer kriegsbedingt abwesend sind –, für sich allein bewohnen können. Ein auffallendes Privileg.
Stein ist ein Mann des Geistes, hat, bis es ihm verboten wurde, eine Zeitschrift herausgegeben, Artikel verfasst. Er arbeitet nun in einem Archiv in Berlin und pendelt fast täglich zwischen den Trümmern und seiner neuen Bleibe hin und her. Dort, in Berlin, gibt es keine Heizung und zumeist auch keinen Strom, aber immerhin hat er da noch seine Sekretärin, die junge Helene Busch, die später eine bedeutsamere Rolle für ihn spielen soll.
„Frühling 45“ von dem hierzulande unbekannten und lange vergessenen Karl Friedrich Borée (1886–1964) ist weniger Roman als eine Dokumentation der letzten Tage des Zusammenbruchs, der sich nunmehr auch im Kleinen, im Persönlichen, manifestiert. Das Ende ist zwar nah, aber noch immer gibt es Fliegeralarm, die Luftschutzkeller sind voll, Stein hat die Befürchtung (weniger die Angst), noch zum letzten „Volksturm“ eingezogen zu werden, zudem treten bald russische oder polnische Soldaten auf den Plan. Deren rüdes, rachegesättigtes Gebaren komplettiert den Eindruck einer nachhaltigen Unsicherheit. Die kleine Familie erscheint jedoch erstaunlich funktionsfähig, bemerkenswert ist die Abgeklärtheit, die bald stoische Ruhe jedes Einzelnen, mit der den Ereignissen begegnet wird, man spürt so etwas wie einen positiven Fatalismus. Steins Abstand zum Weltlichen bedeutet nicht, dass er moralisch völlig integer wäre; im Keller des Hauses von Flitta, der Hausbesitzerin, werden die abenteuerlichsten Dinge gehortet, da gibt es selbst bei Kriegsende noch haufenweise Zigarren, Fressalien, gar Whisky, woran sich dann auch Stein heimlich und ganz ohne Gewissensbisse schadlos hält: „Die bürgerliche Moral war längst in allen ihren Normen ins Wanken gebracht.“ So relativieren sich halt auch letzte Dinge.
Marodierende Russen fallen ins Haus ein, manche verhalten sich anständig, man stößt sogar auf die Befreiung an, andere nehmen mit, was sie in die Finger bekommen. Es kommt zu sexuellen Übergriffen, zunächst in der Nachbarschaft, dann auch in Steins Haus, seine Tochter flüchtet aufs Dach, Flitta dagegen entgeht einer Vergewaltigung nicht. Und Stein grübelt anlässlich dieser Taten eher kühl, „wie man bei diesem sexuellen Rauschverfahren auf seine Lust kommen kann“. Borée bleibt auch in diesen verstörenden Situationen bei seiner eher distanziert wirkenden und manchmal elaboriert wirkenden Sprache, der Roman wurde allerdings nicht unmittelbar nach diesen Ereignissen, sondern einige Jahre nach Kriegsende verfasst und erschien erst 1954. Gelungen sind ihm auch die Teilporträts einiger randständiger Figuren, etwa von Kordysant, der sich als Arzt ausgegeben hatte, dabei keiner war, von Dreier, einem widerlich opportunistischen Nazi, angesichts dessen Stein sich tatsächlich mit düsteren Mordgedanken trägt.
Stein selbst erspäht in Helene, mit der es bereits zu weit mehr als nur zum Austausch von diversen Zärtlichkeiten gekommen ist, seine Zukunft, am liebsten aber will er eine „ménage à trois“, sich von Frederike nicht scheiden lassen, stattdessen mit Helene „phasenweise“ zusammenleben. Daraus wird nichts, so offen oder so modern ist die Zeit und vor allem Frederike dann doch nicht.

Karl Friedrich Borée: Frühling 45. Chronik einer Berliner Familie. Roman. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2017, 461 S., 24.90 €

aus biograph 4/2018

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