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Porträtfoto: © Claudia Rasztar, Galerie Schloss Agathenburg 2022

Alke Reeh

Flächen und Stege

Vielleicht ist es ja die zentrale Werkgruppe von Alke Reeh, jedenfalls ist sie charakteristisch und aussagekräftig: Aus rund gefassten Flächen aus textilem Stoff stülpen sich regelmäßige breite Falten nach oben, so dass, ausgehend von der Mitte, ein symmetrisch angelegtes Kontinuum an Modulen mit Hebungen und Senken entsteht, teils noch ummantelt oder eingefasst in ringförmig verlaufende Lamellen. Die Reliefs übersteigen oft das menschliche Maß und öffnen sich als prächtiges Ornament zum Betrachter hin. Die Waben, Kästchen, Dreiecke, Schrägen halten sich, auf der Grund­lage des Nähens und Faltens, mit ihren Stegen selbst. Von Nahem schlagen sie von der Negativform in die Positivform um, eine rotierende Dynamik geht mit der Selbst­referentialität der Einzelform einher. Und Alke Reeh praktiziert mit jedem dieser Werke, wie sie seit den 2000er-Jahren entstehen, neue Ideen und Verfahren, etwa indem sie auch mit Gips arbeitet und das Zentrum als kreisrunde Scheibe ausspart.

„In der Falte liegt ein wesentliches Potential für den Raum. Aus einem kompakt zu­­sam­­mengelegten Objekt entsteht bei dem Prozeß des Auseinanderfaltens ein in den Raum greifender Körper. Dieser umschließt Raum, trennt ihn in innen und au­ßen, in davor und dahinter“, hat sie in einem Statement für eine Ausstellung geschrieben (2016). Strenge und Lapidares, das die weiche Materialität vermittelt, treffen zusammen und initiieren eine Vielzahl an Wahrnehmungen und Empfindungen. Vielleicht denkt man, zumal bei der Fragilität des Stoffes, an die Kunst der Papierfaltung oder an das Kinderspiel der über die Finger gestülpten, wechselseitig aufklappbaren Kästchen von Himmel und Hölle. Oder an ein Kaleidoskop. Weiterhin stellen sich Analogien zu Phänomenen der Fauna und Flora ein. Aber man kann das Relief in seiner überwältigenden Größe, plastischen Präsenz und farblichen, schattenreichen Differenziertheit auch als abstrakte Malerei verstehen. Die Werke von Alke Reeh tragen die Regelhaftigkeit und Würde eines Mosaiks, das mit den Händen zusammengefügt ist. Die sachliche Geometrie und ihre Rhythmisierung bilden mit der emotionalen Befindlichkeit, mit Stofflichkeit, Haptik und Licht eine Einheit.

Mit diesen Werken, zu denen fächerartig aufklappende oder an der Wand mäandernde kantige Reliefs kommen, hat sich Alke Reeh in der abstrakt konstruktiven Kunst, aber auch in der Textilkunst und im Bereich der Installation etabliert. Außerhalb von ihrem Lebens- und Arbeitsort Düsseldorf, den sie für zahlreiche Stipendien und Residenzen – in Mexiko, Mumbai, Riad oder Rom – von Zeit zu Zeit verlassen hat, ist sie vielleicht bekannter als in der Landeshauptstadt selbst. Umso verdienter ist, dass sie jetzt – darin in einer Reihe etwa mit Beatrix Sassen, Walter Vogel oder Norika Nienstedt – den „Kunstpreis der Künstler“ der Großen Kunstausstellung NRW erhalten hat und dort, im Kunstpalast, mit einer konzentrierten Ausstellung geehrt wird.

Alke Reeh wurde in München geboren; sie hat zunächst Metallgestaltung an der Fachhochschule Hildesheim studiert und ist dann an die Kunstakademie Düsseldorf gewechselt, an der sie als Meisterschülerin bei Klaus Rinke abgeschlossen hat. Noch während des Studiums entsteht das Werk „one megadeath“ (1987). In einer Kassette wird ein Leporello aufbewahrt, das aus 1000 Seiten im Format 23,5 x 23,5 cm be­steht, auf denen jeweils in Reihen 100 gleiche schematische Figuren neben- und untereinanderstehen – also zusammen eine Million: Das entspricht der Maßeinheit für die hypothetische Anzahl an Menschen, die eine Atomwaffe tötet. Ausgebreitet als Band und damit Figur für Figur sichtbar, ergibt das Leporello 235 m. In Ausstellungen zieht es sich teils in Reihen übereinander die Wand entlang, so dass die Besucher die nicht fassbare Men­schenmenge aus Individuen in einer stillen, intensiven Ge­­dächt­nisarbeit erfahren. Diese frühe Arbeit formuliert bereits vieles von dem aus, was auch weiterhin und bis heute Alke Reehs Werk kennzeichnet, besonders die Fragilität des Materials, das gefaltet und wieder aufgefaltet ist und die Gleichmäßigkeit der Struktur, hergestellt im Wieder und Wieder der händischen Handlung. In linearer Abfolge führt das Band durch den Raum wie ein Leitsystem. Dabei klärt es dessen architektonische Struktur und liefert Erkenntnisprozesse zu Zeit und Bewegung. Und was hier wie auch später ein Anliegen ist, ist die Referenz auf die Welt und das Verhalten der Menschen, auf Geschichte und Gegenwart.

Alke Reeh registriert und analysiert Formzusammenhänge, welche die Natur ebenso wie die künstlich-konstruierte Archi­tek­tur ausbilden, in ihrer Funktionalität, Schönheit und Organi­sation, die sie als einzelne und im Verbund beschreibt. Ein Schritt in der Genese ihres Werkes waren in den 2000er-Jahren ihre Farbfotografien der Kuppeln von Moscheen und Kirchen, aufgenommen vertikal in die Höhe, so dass sie sich als Gewölbe in regelmäßige Segmente gliedern. Die ornamentale Pracht mit ihren perspektivischen Einstellungen und der farblichen Attraktion verweist auf unterschiedliche Kulturen, über die Leistungen der Baumeister hinaus. Ebenso hat Alke Reeh eigene Fotografien urbaner Szenen, von Hausfassaden ebenso wie von Wohnräumen ornamental mit weißen Fäden oder Rastern aus Draht überzogen – wir schauen wie durch eine Scheibe oder einen Zaun. Im Grunde lassen sich die applizierten Reihen, Linien ebenfalls als Falze und Stege lesen. Sie können sich verselbständigen und direkt, als Metallbänder, an die Ausstellungswand gesetzt sein oder wie ein gewellter Vorhang als aufragende, weiß gestrichene Holzskulptur im Raum stehen. „Flächen weiterdenken“ oder „Drehen und Wen­­­­den“ sind die Titel von weißen Holzreliefs aus verschobenen, schräg verschachtelten Flächen, die eigene Raumsegmente ergeben, wie sie Alke Reeh dann auch, mit der materialimmanenten Zartheit, in Stoff umsetzt und in offene Großskulpturen übersetzt.

So entwickelt sie „Zelte“ (die auch so heißen, etwa für die Yinchuan Biennale in der Inneren Mongolei 2016) inmitten der Landschaft oder in Ausstellungshallen. Die Stoffbahnen fügen sich zu einer gegliederten Hülle zusammen, in der mehrere drei­eckige, mitunter unterschiedlich farbige Zeltformen, die sich noch nach innen aus­richten, begehbar miteinander verbunden sind. Oder sie können im Zustand offener Flächen verbleiben. Erstmals ist dies 2020 in den weiten und hohen Flottmannhallen in Herne mit dem beige-orangenem Werk „Trapez (Flächen weiterdenken)“ der Fall. In der Galerie des Künstlerdorfes Schöppingen haben die Stoff­flächen die Zimmer durch die Türöffnungen überspielt, wobei zwei Bänder versetzt nebeneinander verliefen und die Laufrichtung forciert haben. Einzelne funktionale Metallstangen, die als konstitutives Element der Installation sichtbar bleiben, halten und lenken den Verlauf und die Richtungswechsel des Stoffs, der auch hier schräge, kantige Nischen, steg­artige Hebungen und Falten konstituiert. In ihrer recherchierenden Auseinan­derset­zung mit der stofflichen Materialität, ihrer Far­bigkeit, Transparenz, Taktilität und Ober­­­flächenstruktur, aber auch – ganz praktisch – Stabilität und Elastizität und ihrer Verfügbarkeit in der benötigten Länge führt dies Alke Reeh aktuell zu Raumkörpern aus transparenten Stoffen, die aus der Wand herauswachsen. Sie hat derartige helle feinmaschige Gewebe über viele Meter so gespannt, dass sie wie ein Schacht einen Raum definieren, der als Licht durch ein Fenster einfällt: als diaphaner, ephemerer Lichtstrahl, der eben noch da ist und zu anderer Tageszeit tatsächlich wieder ganz anders wirkt.

Die GROSSE Kunstausstellung NRW, bis 28. Juli im Kunstpalast und im NRW-Forum, Ehrenhof, Di-So 11-18, Do 11-21 Uhr
www.diegrosse.de

TH

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