Abstrakt und erdig tritt das Bild auf. Als Bildtitel dient eine sachliche Ortsangabe: Falesia, Algarve, Portugal. Die Nummer 1 deutet auf eine Reihe nachfolgender Arbeiten hin. FALESIA wurde „in situ“, am angegebenen Ort, mit dortigen Erden gemalt, nachdem sie von Hand zerstoßen, zu Pulver gemörsert und mit Fixiermittel gebunden wurden. Die Oberfläche zeigt die Erdkruste in ihren warmen Tönungen, mal feiner, mal grobkörniger, unterschiedlich rau. Atomisiert und in neuen Konfigurationen auf die Leinwand gebannt, berichtet jede Tönung von der Erdgeschichte, von Prozessen der Ablagerung, Ausblühung, Verwitterung, Faltung, Verdichtung. Die Erde, kulturgeschichtlich meist wahrgenommen als gewaltiges, festes Element im Kosmos, zeigt sich hier in materiell hoher Auflösung und im Nebeneinander harmonisch lebendiger Farbabstufung.
Im nahezu quadratisch angelegten Bild lässt sich keine Figur ausmachen. FALESIA abstrahiert nicht im üblichen Sinn ein Thema oder eine Figur. Doch ganz im Sinn des Abstrahierens reduziert das Bild erdgeschichtliche Prozesse auf Porosität und Farbausbildung. Hier ist Farbe zugleich Materie. Farben und Dichten der Materie lenken die Bildgestaltung, die ihre Wahrhaftigkeit allein aus dem am Ort vorgefundenen Gestein bezieht. Nur das örtlich Gegebene findet Eingang ins Bild. Was genau oben oder unten, rechts oder links gewichtet ist, spielt keine Rolle. Das Bild entsteht intuitiv mit der Bewegung der Künstlerin und der bewegten Erde auf der Leinwand. Kein latentes Wollen lenkt hin zu irgendeiner Figuration. Die Erde scheint sich frei auf der Leinwand zu entfalten. Nur die Festlegung des nahezu quadratischen Ausschnitts macht den Eingriff durch die Künstlerin deutlich.
Meteore verglühen und bilden in ihrem blitzartigen Flug am Nachthimmel eine sichtbare Leuchtspur. Gelangen sie bis zur Erde, verdunkelt sich ihre Farbe, und sie werden zum Meteorit. So haben sie ihre eigene Geschichte und ihre eigene Farbe, ehe sie sich als kosmisch Weitgereiste dem örtlichen Gestein zugesellen. Auf der Leinwand vereinen sich das eingegrenzte Lokale und die kosmische Weite. Der Erdball und der gesamte Kosmos bieten sich als Teile voneinander dar. Ohne mit erhobenem Zeigefinger auf die Klimakrise hinzuweisen, teilen sich die Gesteine als pulverisierte Masse in ihrer existentiellen Verwobenheit mit. Diesen Prozess hat die Künstlerin in FALESIA ebenso intuitiv wie konkret verbildlicht. Im Mikrokosmos der Leinwand begreifen wir ganz leicht die verflochtenen Bedingtheiten des Makrokosmos. Ganz sinnlich ist die Interaktion der auf der Leinwand fixierten, pulverisierten Materie wahrzunehmen, wenn man die Oberfläche des Bildes berührt; die Oberfläche, die in ihrer Unebenheit Zugang zu ihrer Geschichte und ihrer Befindlichkeit anbietet.
www.ulrikearnold.com
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Ilse Henin
Erzählungen vom Leben, vom Umgang der Lebewesen miteinander und von der Einrichtung in der Welt
In die Seele sehen
Chaïm Soutine in der Kunstsammlung NRW am Grabbeplatz
Ora KATZ
Der Krabbenfischer von Oostduinkerke, 2022
Volker Döhne
Spuren vom Menschen
Das Andere der Kunst
„Calling“ im Kunstverein am Grabbeplatz
Tobias Kerger
MAD ASSOCIATIONS BASED ON A CRUMB RELIEF, 2023
GEDANKEN ZUM MITNEHMEN
„Leonardo da Vinci – uomo universale“ in Wuppertal
Heike Kati Barath
Auf der Kippe
Jan Stieding
Nach der Erinnerung
Ein Kleid für ZERO
Vom Fortleben einer Bewegung in der ZERO foundation
Paula Knaps Loos
AUGE UM AUGE
Manfred Müller
Fläche und Körper
Ein Jahr für Sigrid Kopfermann
Drei Ausstellungen zum 100. Geburtstag
Seoyoung Yun
o.T., 2023
Mio Zajac
CLARK SICKLE-LEAF CARPET
Peter Piller
Bilder entdecken und sehen
Die Reize echter Fotografie
Drei Ausstellungen im NRW-Forum
Jan Kolata
Formereignisse, die sich zueinander verhalten
Heerich und Hombroich
Erwin Heerich noch zum 100. Geburtstag
Andreas Steinbrecher
PHILIA 2022
Jeehye Song
Seltsame Zeiten
Mit der Linie
Norbert Kricke zum 100. Geburtstag
Jörg Wiele
Das schwebende Om, 2021
Beide Häuser
Reinhard Mucha in der Kunstsammlung
Holger Runge
Heiter, ernsthaft zugeneigt