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Sebastian Riemer
Porträtfoto: © Albrecht Fuchs

Sebastian Riemer

Sebastian Riemer arbeitet mit Fotografie: Sie erhält bei ihm ihre dokumentarische Ehrlichkeit zurück, indem er die Verfahren der Vortäuschung entlarvt. Oft geht er von älteren Aufnahmen aus, sogar historischer Fotografie aus der Anfangszeit dieses Mediums

Sebastian Riemer arbeitet mit Fotografie: Sie erhält bei ihm ihre dokumentarische Ehrlichkeit zurück, indem er die Verfahren der Vortäuschung entlarvt. Oft geht er von älteren Aufnahmen aus, sogar historischer Fotografie aus der Anfangszeit dieses Mediums. Seine seit 2015 entstehende Werkgruppe der „Instant Photos“ beruht auf Daguerreotypien, die er als Pola­roidaufnahmen im Format von 11 x 9 cm frei im Passepartout und gerahmt hinter Glas präsentiert. Diese Bilder handeln mit den Fehlern der Repräsentation durch die frühen unausgereiften, anfälligen Techniken, die hier zudem rekonstruiert sind: Die Daguerreotypien hat Riemer aus dem Internet, also vom Bildschirm, mit einem heutigen Verfahren aufgenommen, welches die Polaroid-Fotografie nachahmt. Im Bild selbst sind eine einzelne Person oder ein Paar wie Aussparungen im milchigen Lichtkegel zu sehen, der Umraum ist aufgewühlter abstrakter Ges­­tus aus Entwicklerflüssigkeit, der das Bild in ein verwaschenes Blau taucht. Über die Oberfläche ziehen sich einzelne Kratzer. Indem die Personen, die mit dem Habitus der Mitte des 19. Jahrhunderts sowieso aus der Zeit gefallen wirken, wie freigestellt im Bild auftreten, wird ihre Bedeutung und ihre Er­­zählung mysteriös. Natürlich wird die Aussagekraft und die Lesbarkeit des Porträtfotos befragt, zugleich wird die Distanz veranschaulicht, die zur Gegenwart besteht, und doch sind Riemers Bilder ganz im Heute positioniert.

Im Atelier in Flingern spricht Sebastian Riemer vom Schauwert seiner Bilder. Auch wenn er selbst (ab-) fotografiert – mit genau gewählten, von Werkgruppe zu Werkgruppe wechselnden Verfahren – so ist er doch seit einigen Jahren eher Konzeptkünstler mit dem Medium der Fotografie als Foto­künst­ler. Die Recherche erweist sich als wesentlicher Aspekt seiner Tätigkeit. Er findet die Bilder, die ihn aufgrund festgelegter Kri­terien interessieren, in aufgelassenen Archiven und im Internet und bestellt sie auch von weit her. In der Hinterfragung dessen, was er sieht, ist er dem ursprünglichen Zustand der Fotografie auf der Spur; er deckt ihre Unzulänglichkeiten, aber auch ihre Intentionen auf. So holt er bei einigen Werkgruppen die Retuschen einzelner Partien wieder hervor, etwa einen „abgeschnittenen“ Arm, durch dessen Fehlen das Körperprofil betont war, oder er legt den Umraum frei, so dass ein Eis­schnell­­läufer – in der eingefrorenen Pose – plötzlich im Foto­studio steht, in dem die Aufnahme ja auch stattgefunden hat. Schon diesen älteren s/w-Aufnahmen ist also nicht zu trauen: eine Erkenntnis, die Riemer bereits vor der Debatte um Fake News analytisch und noch mit Humor belegt hat.

Sebastian Riemer wurde 1982 in Oberhausen geboren. Er hat an der Kunstakademie Düsseldorf in der Fotografie-Klasse bei Thomas Ruff und Christopher Williams studiert und als Meisterschüler abgeschlossen. Noch im Studium, 2005, ist die Werkgruppe der „Autoportraits“ entstanden, bei der Riemer durch die Heckscheibe eines Autos die Frontscheibe des nachfolgenden fotografiert hat. Dahinter zeichnet sich, zusätzlich gebrochen durch die gewölbten Schrägen der Glasscheiben, der Autofahrer ab. Von Abbildung zu Abbildung unterschiedlich deutlich zu erkennen, verbleibt er im diffusen Farbnebel und ist mitunter erst nach langem Schauen zu erkennen.
Mit diesem konstatierenden Sehen von Porträts unter veränderten Bedingungen hat nun auch die aktuelle Werkgruppe zu tun, aus der sieben Bilder in der Setareh Gallery zu sehen sind. Aber die „GRLS“ verschleiern nicht, im Gegenteil. Sie verdeutlichen, ungerahmt an der Wand hängend, die Fotografie als Fotografie. Titel der Ausstellung ist „BBYLON“. Damit treffen Welten aufeinander: Models der Gegenwart mit all ihren Klischees treffen auf die Vorstellung babylonischer Sprachverwirrung. Tatsächlich sehen wir ruinöse Reste der einstigen Schönheit in verunklärender Auflösung. Hinzu kommt, dass es sich um Models handelt, die dem europäisch-kaukasischen Schönheitsideal entsprechen und damit dessen globale Dominanz behaupten – selbst in Tel Aviv, wo Sebastian Riemer die Fotografien durch die Schaufensterscheibe eines leerstehenden Ladens entdeckt und von draußen abfotografiert hat.  Das Licht – tatsächlich unverzichtbares Moment von Fotografie – hat hier zur Zerstörung beigetragen. Hochauflösend und extrem vergrößert, lassen die Abzüge erkennen, wie die oberste Schicht zersetzt ist und sich ablöst, so dass die Schatten der Fetzen zu sehen sind und der unruhige Papiergrund in Erscheinung tritt. Die lebensgroßen Modells werden zu Torsi, noch dazu ausgebleicht und damit erfasst wie kurz vor der völligen Auflösung. In den Abzügen von Riemer geschieht etwas Erstaunliches: Die Fläche wird zum Raum und es scheint, als würden die Papierbrösel real, dreidimensional. Die (Vor-) Täuschung selbst wird zu einem Thema: die Erwartung an Bilder und wie diese doch unsere Wahrnehmung prägen.

Sebastian Riemer
GRLS BBYLON
bis 20. Oktober in der Setareh Gallery, Hohe Straße 53 in der Carlstadt
www.setareh-gallery.com

TH

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