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Porträtfoto: © Ruth Kendrick

Kai Richter

In situ

Der Blick führt schräg nach oben. Die Installation, die Kai Richter zur Ausstellung bei Jürgen Grölle in Wuppertal geschaffen hat, befindet sich knapp unterhalb der Decke. Dort umfängt ein Geflecht aus Doka-Balken, teils mit verbindenden Streben, eine der Säulen und ist in einen Sturzbalken eingehängt. In ihrer Anmutung des Funktionalen scheint die Situation Teil des architektonischen Geschehens der Industriehalle. In ihrem leuchtend gelben, verwitterten Ton und der wie ungeordnet divergierenden Ausrichtung der Einzelteile bietet sie ein visuelles Erlebnis, das sich nie erschöpft, aber Haltepunkte zum Betrachten bietet. Von wo sieht, versteht man mehr: aus der Distanz oder von nahem, gar unter dem kompakt chaotischen Linien- und Flächen-Bündel, das zu weit entfernt ist, um es zu berühren? Die Höhe verändert die Perspektive und zieht die realen Maße zusammen; was von oben zu sehen ist, bleibt verborgen. Und dann entschleunigt sich das Schauen und deutlich wird, wie intensiv die Differenziertheit und Variation der Formerscheinungen und ihr Zueinander durchgespielt sind.

Mit seinem handwerklichen Repertoire verwendet Kai Richter die industriell zugeschnittenen Balken neu, schichtet und verdichtet sie hin zu einer plastisch skulpturalen Verfasstheit, mit der er grundlegende Fragen des Dreidimensionalen vertieft. Durchgängig arbeitet er mit Werkstoffen, normierten Gegenständen und Strukturen aus dem urbanen Raum: mit Doka-Balken, Beton, Rigips, PU-Schaum und mit Bündeln von Neonröhren, mit Gerüststangen und Baugerüsten, Wagenhebern und Stützpfeilern, die er zwischen Boden und Decke einzieht. Dazu belässt er die Farbmarkierungen der Herstellerfirmen. „An seinen Arbeiten verblüfft immer wieder, wie viel Poesie, Witz und Leichtigkeit er seinen prosaischen, eher grobschlächtigen Materialien […] mitzugeben vermag“, hat Peter Lodermeyer geschrieben (Kat. Nürnberg 2011), und das gilt genauso für die haptisch aufgerissenen Stelen aus fragil verrückten Gliedern aus Beton, die er seit 2010 als Positivguss aufeinander getürmter Kartonrollen und -trichter erstellt. Dann wieder sind seine eigenen Maßnahmen äußerst sparsam, etwa wenn er Bleche mit ihren Knicken und Beulen wie ein Ready-made verwendet. Aber er hat sie gefunden und ausgewählt und die Form der Präsentation mit Oben und Unten, ihrer Hängehöhe und dem Abstehen von der Wand festgelegt. Dazu versteht er den Ausstellungsraum und die Ausstellungssituation als ein Motiv der Werke. Er beobachtet die Vorgaben und reagiert darauf – derart, dass die Installationen im Raum selbst entstehen.

Richter, der 1969 in München geboren wurde und heute im Atelier in Rath arbeitet, bezieht sich bedingt auf die sachliche Hinwendung der Minimal Art zu den konkreten Strukturen der industriellen Serien­produktion; er selbst besitzt dafür einen zu produktiven Humor und ein zu großes Interesse daran, die Dinge in die Hand zu nehmen und sie zu erforschen: ihnen Leben einzuhauchen. Seine Werke leben aus der Abweichung, der Überraschung und der Einzigartigkeit. Und aus der Verbündung gleicher Elemente und der Präzision dort, wo man sie vielleicht nicht mehr vermutet. Noch im frühen Studium an der Kunst­akademie Münster, bei Joachim Bandau, erhält er seine erste institutionelle Einzelausstellung, 2000 im Kunstverein Greven. Unter dem Label „Institut für Rotationsforschung“ zeigt er kinetische Werke, darunter Reihen gleichförmiger Holzkästen, welche, elektronisch betrieben, konstant brummen und über dem Boden vibrieren und so Kontakt zum Raum aufnehmen und diesen ganz erfüllen. Schon damals ist der erste Eindruck von der Wiederholung einzelner baulich konstruktiver Elemente geprägt, die sich dann jedoch verselbständigen.

Mit der Fortsetzung des Studiums an der Kunstakademie Düsseldorf wendet sich Kai Richter der temporären Konstruktion zu, die Verände­rung und Zuständlichkeit in sich trägt. Das kennzeichnet bereits die raumgreifende Bedachung über einem Latten- und Baugerüst, die er dort 2002 in der Klasse von Hubert Kiecol aufgebaut hat. Die seriell gereihten Dachpfannen ragten auf der Seite zum Raum hin tiefer hinab, so dass sie um den Giebel als Gelenk zu kippen schienen. Mehrere Gerüststangen stachen vertikal wie Antennen durch die Ziegel – was das Absurde der Szenerie noch steigerte. Das Eisengerüst, in das die Betrachter eintreten konnten, bezeichnet Richter als Sockel: Referenz seiner Werke sind bis heute die immanent klassischen Formen von Skulptur, ebenso wie seine Werke in ihrer Abstraktheit auf deren Gesetzmäßigkeiten und Kriterien rekurrieren, also mit Gravitation, Balance, Aufrichten, Lehnen und Ausgleich und Allansichtigkeit und dem Konterkarieren von Übersicht handeln. Selbst spricht er für seine raumgreifenden Konstruktionen von Bauskulpturen.

An die Düsseldorfer Akademie-Arbeit schließt noch „Trocken“ 2009 in der Galerie Lethert in Köln an: Auf vier Baustützen, die wie zerbrechlich dünne Stelzen wirkten, ruhte über Kopfhöhe eine langgestreckt kantige Form aus Rigips, insgesamt mit den Maßen 260 x 360 cm, die in eine langgezogene Balken-artige Form überging und sich über eine Gesamt­l­­änge von 7 m erstreckte und an einen Düsenjäger oder einen riesigen Papierflieger erinnerte. Der Raum war als Ganzes aktiviert, schon weil die äußeren Rigips-Kanten in die Wände verkeilt waren. Die Besucher mussten unter der Rigips-Form, die partiell, aber nicht ganz durch das Schaufenster zu sehen war, hindurch gehen. Zugleich rückte das Karree der Leuchtstoffröhren an der Decke in den Blick. Schwere und Leichtigkeit, Bedrängnis und Großzügigkeit, Oben und Unten, distanzierte Betrachtung und Einbezogen-Sein trafen zusammen, jeder Schritt diente der eigenen Bewusstwerdung und trug dazu bei, den Raum, der als White Cube viele unterschiedliche Ausstellungen beherbergt, anders zu sehen und seine gestaltende Rolle zu erkennen.

Vorrangig aber bestehen die Konstruktionen, die Kai Richter bis heute im Raum, teils auf Gerüsten, oder an der Wand errichtet, aus Doka-Balken oder kantig geschnittenen Baumhölzern oder langen dünnen Latten, die in alle Richtungen auseinanderstreben und dazu ineinander verschachtelt sind und an die Vorläufig­keit und fragile Balance von Mikado-Stäben erinnern. Dann wieder sind sie wie ein Schwalbennest verdichtet oder umfassen mit den Kanten eines Prismas oder als eine sich auffaltende – riesengroße – Blüte ein leeres Volumen und können wie der eingefrorene Zustand einer Explosion wirken. Und indem man, wie jetzt in Wuppertal, von unten wie auf eine Baumkrone schaut, stellt man fest, dass eben kein Balken und keine Strebe zufällig an ihrem Platz ist, dass das eine das andere hält, auffängt und umklammert und so erst ausformuliert und unzählige Mikro­ereig­­nisse vorliegen, denen allesamt künstlerische Entscheidungen vorausgegangen sind.

Aber Kai Richter hat ausgehend von derartigen konkreten, fixierten Konstruktionen die Vorstellungskraft weitergetrieben: Seine Collagen aus Fotoschnipseln denken all das, was im Realraum gerade noch möglich ist, in die Utopie weiter. Als Ausgangspunkt nimmt er Fotos eigener Installationsansichten und schneidet einzelne Partien aus, um sie auf dem Papier neu zu arrangieren und miteinander zu kombinieren: gegen jede Schwerkraft und jede Regel der Stabilität, aber nicht minder mit dem Vortasten und Durchdringen von Raum. Und dann denkt man an die Meta-Architektur und experimentelle Architektur etwa von Coop Himmelb(l)au und Lebeus Woods mit dessen soziokultureller Verortung, die es bei diesem eben nur in der Skizze gibt. Indem Kai Richter seine Installationen, seine Skulpturen und Collagen als Kunstwerk – im Kontext von Ausstellungen – definiert und ihre technischen Elemente noch betont und mit ihnen arbeitet, widmet er sich der fortschrittlich funktionalen Verfasstheit unserer Zivilisation, ihren Veränderungen und dem Wiederkehrenden und Einflussreichen dieser baulichen Glieder, die im Kontext der Stadtmöblierung, als Gerüst am Gebäude oder im Rohbau oder im Straßenverkehr sofort wieder vergessen werden. Indem sie nun vermeintlich zweckfrei, aber zweckdienlich zusammengefügt werden, befragt er mit konstruktiven Mitteln das Potenzial und die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Und dann tritt hinter der rauen und so schwer gewichtigen Industriematerialität eine unprätentiöse Schönheit und Balance hervor, die alles Massive hinter sich lässt, subtil noch auf Bauprinzipien in der Natur weist, und vielleicht – wäre nur die Decke zum Himmel hin geöffnet – ganz selbstverständlich dorthin entfliegen könnte.

Kai Richter
ist beteiligt bei: „Lach nicht, sonst bekommst du Risse“,
bis 28. Oktober in der Galerie Grölle, Friedrich-Ebert-Straße 143e in Wuppertal-Elberfeld, Do-Fr 15-18.30 Uhr u.n.V.

TH

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