So kleinformatig die Bilder von Harald Naegeli auch sind und so sparsam sie angelegt sind, sie entfachen doch ein Feuerwerk an Lebhaftigkeit und Nuanciertheit. Mit ihrem farbigen Grund sind sie bisweilen Malerei, etwa bei der Werkgruppe der „Etuden“, in denen die von Hand gezogenen Raster mit den Farbpartien an Kirchenfenster erinnern. - Dabei geht es Naegeli immer um Zeichnung. Seine Linienführung wechselt zwischen freier Bewegung, Konturierung und gegenständlicher Notation. Das Zeichnen ist bedächtig und unruhig zugleich, feingliedrig sich verästelnd und insistierend repetitiv ... So vermittelt das reihende Stakkato von Strichen und Punkten zu Füßen der leeren Fläche als winzige queroblonge Landschaft eine unermessliche Weite, empfunden wie „Vorbei“-Szenen bei der Zugfahrt. Wie auch die Tierdarstellungen hat Naegeli sie aus der Anschauung gewonnen und im Lösen von der Skizze verdichtet und geklärt. Immer geht es Naegeli um Konkretes, auch dann, wenn er mit der impulsiven, ausgreifenden Geste arbeitet. Dies betrifft besonders die Werkgruppe der „Blitze“, bei denen sich eine senkrechte weiße Linie teilt, wieder bündelt und frei ausläuft. Auf dem schwarzen Grund, der an Schiefer erinnert, wirken die „Blitze“ wie prähistorische Höhlenzeichnungen oder doch wie Gräser, die sich ihren Weg bahnen und mit einem Mal eine aufrechte Figur erkennen lassen. Im plötzlichen Aufscheinen aber steckt die Flüchtigkeit des Vorübergehens und des Verblassens.
Harald Naegeli ist politisch mit Haut und Haaren, schon indem er die eigene Rolle – seine Verantwortung als Künstler – hinterfragt. Seit Jahrzehnten übt er Kritik an den Wirkweisen des Kapitalismus, und er plädiert dafür, dass Kunst für alle zugänglich sein müsse. Ihn interessiert die Idee, dass sie anonym sein könnte (also sich vom Namen als Label löst) und – radikal ortsbezogen – für jedermann zugänglich ist.
Er beobachtet zeichnend. Er zeichnet ununterbrochen in Skizzenbüchern, auch wenn er unterwegs ist, pendelnd zwischen Zürich und Düsseldorf, das eine sein Erstwohnsitz, das andere die Stadt, in der er sich am meisten aufhält. Naegeli sagt, er sei ein Dadaist aus Zürich. Er wurde 1939 geboren, seine Mutter war Malerin, er selbst hat in Zürich und in Paris Kunst studiert. Bei den großen Sammlerfamilien in der Schweiz konnte er die bewunderten Meisterwerke der Klassischen Moderne sehen, die dann vielleicht die Sprache seiner Sprühzeichnungen mitgeprägt haben: im Zusammenwirken von gegenständlicher Verknappung, Symbol und konstruktiver Spannung. Paul Klee, Hans Arp und Miró zählen zu seinen Favoriten, auch Schwitters: Die ersten Arbeiten, mit denen er nach seinem Studium bekannt wurde, waren Collagen – bevor er das sichere Terrain des konventionellen Bildträgers verlassen und den öffentlichen Raum als Wirkungsfeld erkannt hat, um die Bevölkerung aufzurütteln. Zunächst sprayte er in seiner Heimatstadt Textbotschaften, ehe er zwischen 1977 und 1979 hunderte Sprühfiguren auf Beton und Mauerwerk gesetzt hat. Er hatte eine Bildsprache gefunden, mit der er gegen die Kommerzialisierung von Wohnen, den Abriss von alter Bausubstanz, um mit Zweckbauten höhere Mieten kassieren zu können opponieren konnte. Unvorstellbar, wie Naegeli damals als Staatsfeind verfolgt wurde – und dadurch, als „Sprayer von Zürich“ ein Phantom, Berühmtheit erlangte – , bis er schließlich an der dänischen Grenze gefasst wurde. Nach einer Haftstrafe in der Schweiz zog Naegeli dorthin, wohin er schon zuvor geflohen war: nach Düsseldorf, eingeladen von Joseph Beuys.
Mit seinen Sprühzeichnungen hat Harald Naegeli Maßstäbe für einen friedlichen Protest und für das Graffiti als künstlerische Disziplin gesetzt. Aber seine Arbeiten sind in ihrer Handschriftlichkeit nicht nur inhaltlich motiviert, sondern auch in Bezug auf die umgebende Architektur gesprayt. Sie strecken sich, plötzlich da, um Kanten, ragen an Säulen empor, könnten sich als ganzer Zyklus im Stadtraum wiederfinden – wie 1980/81 der „Kölner Totentanz“: „So entstand in schneller Folge ein getanzter Spuk auf Brandmauern, Brückenpfeilern, Parkdecks und Straßennischen“ hat Louis Peters zur fotografischen Dokumentation von Hubert Maessen geschrieben. Naegeli „ist es gelungen, aus jeder kleinen Zeichnung ein Denk-Mal zu machen.“ (Kat. Köln 1982) 1986 folgt der „Totentanz der Fische“ längs des Rheins zur chemischen Verseuchung durch Sandoz. Das ikonografische Vokabular hat noch heute seine Gültigkeit. Das Auge, das Dreieck, der Fisch, der Totenschädel, der Knochenmann sind augenblicklich erkennbar und in ihrer Begrifflichkeit komplex und in ihrer Einfachheit schön. Zu ihrer Wirkung trägt die offensichtliche Geschwindigkeit bei, die Konzentration auf das Wesentliche, gesprayt in der Dämmerung oder frühmorgens. Das Lineare kennzeichnet – bei aller Schärfe – eine Bescheidenheit, der die Höflichkeit eines Gast innewohnt.
Dieses Zurückhaltende und Andeutende verbindet die Sprayfigur mit Harald Naegelis vielleicht wichtigster Zeichnungsgruppe, an der er seit 20 Jahren im Düsseldorfer Atelier arbeitet, der „Urwolke“. Die „Urwolken“-Bilder im Format 108 x 75 cm entstehen mit der Tuschfeder in größter Entschleunigung parallel über Jahre hinweg. Naegeli setzt einzelne Kringel und Punkte, die meditativer Rhythmus, Formwerdung und deren Auflösung auf dem weißen Papier zugleich sind. Zugleich versteht er alle Blätter dieser Serie als zusammengehörig und damit als Endloszeichnung – eine Utopie, sagt Naegeli, wie die Wolke selbst, die nicht zu fassen ist.
Harald Naegeli
für die Flüchtlingsinitiative „Stay!“
bis 3. Januar in der Galerie Art Unit,
Leopoldstaße 52, Tel. 13 95 22 39
www.artunit.de
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