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Harald Naegeli
Porträtfoto: © Wolfgang Spiller, Düsseldorf

Harald Naegeli

Langsame Linien

So kleinformatig die Bilder von Harald Naegeli auch sind und so sparsam sie angelegt sind, sie entfachen doch ein Feuerwerk an Lebhaftigkeit und Nuanciertheit. Mit ihrem farbigen Grund sind sie bisweilen Malerei, etwa bei der Werkgruppe der „Etuden“, in denen die von Hand gezogenen Raster mit den Farbpartien an Kirchenfenster erinnern. - Dabei geht es Naegeli immer um Zeichnung. Seine Linien­führung wechselt zwischen freier Bewegung, Konturierung und gegenständlicher Notation. Das Zeichnen ist bedächtig und unruhig zugleich, feingliedrig sich verästelnd und insistierend repetitiv ... So vermittelt das reihende Stakkato von Strichen und Punkten zu Füßen der leeren Fläche als winzige queroblonge Landschaft eine unermessliche Weite, empfunden wie „Vorbei“-Szenen bei der Zugfahrt. Wie auch die Tierdarstellungen hat Naegeli sie aus der Anschauung gewonnen und im Lösen von der Skizze verdichtet und geklärt. Immer geht es Naegeli um Konkretes, auch dann, wenn er mit der impulsiven, ausgreifenden Geste arbeitet. Dies betrifft besonders die Werkgruppe der „Blitze“, bei denen sich eine senkrechte weiße Linie teilt, wieder bündelt und frei ausläuft. Auf dem schwarzen Grund, der an Schiefer erinnert, wirken die „Blitze“ wie prähistorische Höhlen­zeichnungen oder doch wie Gräser, die sich ihren Weg bahnen und mit einem Mal eine aufrechte Figur erkennen lassen. Im plötzlichen Aufscheinen aber steckt die Flüchtigkeit des Vorübergehens und des Verblassens.

Harald Naegeli ist politisch mit Haut und Haaren, schon indem er die eigene Rolle – seine Verantwortung als Künstler – hinterfragt. Seit Jahrzehnten übt er Kritik an den Wirkweisen des Kapitalismus, und er plädiert dafür, dass Kunst für alle zugänglich sein müsse. Ihn interessiert die Idee, dass sie anonym sein könnte (also sich vom Namen als Label löst) und – radikal ortsbezogen – für jedermann zugänglich ist.

Er beobachtet zeichnend. Er zeichnet ununterbrochen in Skiz­zen­büchern, auch wenn er unterwegs ist, pendelnd zwischen Zürich und Düsseldorf, das eine sein Erstwohnsitz, das andere die Stadt, in der er sich am meisten aufhält. Naegeli sagt, er sei ein Dadaist aus Zürich. Er wurde 1939 geboren, seine Mutter war Malerin, er selbst hat in Zürich und in Paris Kunst studiert. Bei den großen Samm­lerfamilien in der Schweiz konnte er die bewunderten Meister­werke der Klassischen Moderne sehen, die dann vielleicht die Sprache seiner Sprühzeich­nungen mitgeprägt haben: im Zusam­men­­wirken von ge­genständlicher Verknap­pung, Symbol und konstruktiver Spannung. Paul Klee, Hans Arp und Miró zählen zu seinen Favo­riten, auch Schwitters: Die ersten Arbeiten, mit denen er nach seinem Studium bekannt wurde, waren Collagen – bevor er das sichere Terrain des konventionellen Bildträgers ver­lassen und den öffentlichen Raum als Wir­kungsfeld erkannt hat, um die Bevölkerung aufzurütteln. Zunächst sprayte er in seiner Heimatstadt Textbotschaften, ehe er zwischen 1977 und 1979 hunderte Sprühfiguren auf Beton und Mauerwerk gesetzt hat. Er hatte eine Bildsprache gefunden, mit der er gegen die Kom­merzi­alisierung von Wohnen, den Abriss von alter Bausubstanz, um mit Zweckbauten höhere Mieten kassieren zu können opponieren konnte. Unvor­stellbar, wie Naegeli damals als Staatsfeind verfolgt wurde – und dadurch, als „Sprayer von Zürich“ ein Phantom, Berühmtheit erlangte – , bis er schließlich an der dänischen Grenze gefasst wurde. Nach einer Haftstrafe in der Schweiz zog Naegeli dorthin, wohin er schon zuvor geflohen war: nach Düsseldorf, eingeladen von Joseph Beuys.

Mit seinen Sprühzeichnungen hat Harald Naegeli Maßstäbe für einen friedlichen Protest und für das Graffiti als künstlerische Disziplin gesetzt. Aber seine Ar­­bei­­ten sind in ihrer Hand­schrift­lichkeit nicht nur inhaltlich mo­­ti­­viert, sondern auch in Bezug auf die umgebende Architektur ge­­sprayt. Sie strecken sich, plötz­­lich da, um Kanten, ragen an Säulen empor, könnten sich als ganzer Zy­klus im Stadt­raum wiederfinden – wie 1980/81 der „Kölner Toten­­­tanz“: „So entstand in schneller Folge ein ge­­tanzter Spuk auf Brandmauern, Brücken­­pfeilern, Park­decks und Straßennischen“ hat Louis Peters zur fotografischen Doku­mentation von Hubert Maessen geschrieben. Naegeli „ist es gelungen, aus jeder kleinen Zeichnung ein Denk-Mal zu machen.“ (Kat. Köln 1982) 1986 folgt der „Totentanz der Fische“ längs des Rheins zur chemischen Verseuchung durch Sandoz. Das ikonografische Vokabular hat noch heute seine Gültig­keit. Das Auge, das Dreieck, der Fisch, der Toten­schädel, der Knochen­mann sind augenblicklich erkennbar und in ihrer Begrifflichkeit komplex und in ihrer Einfachheit schön. Zu ihrer Wirkung trägt die offensichtliche Geschwindigkeit bei, die Kon­zentration auf das Wesentliche, gesprayt in der Dämmerung oder frühmorgens. Das Lineare kennzeichnet – bei aller Schärfe – eine Beschei­denheit, der die Höflichkeit eines Gast innewohnt.

Dieses Zurückhaltende und Andeutende verbindet die Sprayfigur mit Harald Naegelis vielleicht wichtigster Zeichnungsgruppe, an der er seit 20 Jahren im Düsseldorfer Atelier arbeitet, der „Urwolke“. Die „Urwolken“-Bilder im Format 108 x 75 cm entstehen mit der Tuschfeder in größter Entschleu­nigung parallel über Jahre hinweg. Naegeli setzt einzelne Kringel und Punkte, die meditativer Rhyth­mus, Formwerdung und deren Auflösung auf dem weißen Papier zugleich sind. Zugleich versteht er alle Blätter dieser Serie als zusammengehörig und damit als Endloszeichnung – eine Utopie, sagt Naegeli, wie die Wolke selbst, die nicht zu fassen ist.

Harald Naegeli
für die Flüchtlingsinitiative „Stay!“
bis 3. Januar in der Galerie Art Unit,
Leopoldstaße 52, Tel. 13 95 22 39
www.artunit.de

TH

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